PERSONALquarterly 4/2018 - page 6

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SCHWERPUNKT
_INTERVIEW
PERSONALquarterly 04/18
PERSONALquarterly:
Herr Prof. Dr. Böhm, Sie sind Direktor des
interdisziplinären Centers for Disability and Integration (CDI)
an der Universität St. Gallen, einer im deutschsprachigen Raum
einzigartigen Institution. Aus welcher Motivation heraus ist das
CDI entstanden und was sind die Ziele?
Stephan Böhm:
Das CDI-HSG wurde durch eine Zuwendung der
Stiftung My Handicap an die Universität St. Gallen ermöglicht.
My Handicap geht wiederum auf die Initiative von Joachim
Schoss zurück, einem deutschen Internetunternehmer, der bei
einem unverschuldeten Motorradunfall schwer verunglückte.
Während seiner Genesung stellte er fest, dass viele wichtige
Informationen für Menschen mit Behinderung fehlen und dass
insbesondere im Bereich des Berufs und der Wiedereinglie-
derung zu wenige Beratungsangebote bestehen. Das Gleiche
gilt für die betriebs- und volkswirtschaftliche Forschung, die
dem Thema Behinderung im Vergleich zu anderen Diversitäts­
dimensionen nur geringe Beachtung schenkt. Dies zu ändern
und durch belastbare Evidenz die nachhaltige berufliche Inklu-
sion vonMenschen mit Behinderung zu fördern, ist die Mission
des CDI-HSG.
PERSONALquarterly:
Wo stehen wir heute – inwieweit wird das
Potenzial qualifizierter Arbeitskräfte mit Behinderung genutzt?
Welche Barrieren hemmen die wirtschaftliche Teilnahme von
Menschen mit Behinderung?
Böhm:
Generell bin ich der Meinung, dass hier in der letzten
Dekade schon deutliche Fortschritte erzielt wurden und das
Thema für die Unternehmen an Relevanz gewonnen hat. Dies
ist nicht zuletzt auf den demografischen Wandel und die damit
einhergehende Alterung der Belegschaften zurückzuführen.
Immer mehr Firmen stehen vor der Herausforderung, dass
plötzlich viele ihrer Mitarbeitenden gesundheitliche Ein-
schränkungen haben, mit denen sie umgehen müssen. Bei der
bewussten Neueinstellung von Menschen mit bereits existie-
renden Behinderungen hapert es allerdings noch, selbst in
Zeiten des „War for Talents“, den viele Unternehmen mittler-
weile spüren. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sicherlich
spielen Stigmatisierung und Vorurteile in Bezug auf die Leis­
tungsfähigkeit oder Belastbarkeit eine Rolle. Oftmals ist es
aber vermutlich auch fehlendes Wissen, wie Menschen mit
Wie Unternehmen und Führungskräfte zum
Gelingen beruflicher Inklusion beitragen
Das Interview mit
Prof. Dr. Stephan Böhm
führte
Benjamin Krebs
Behinderung erfolgreich rekrutiert und beschäftigt werden
können. Umso wichtiger sind hier positive Fallbeispiele, wie
sie z. B. im Rahmen von Inklusionspreisen vermittelt werden
können. Auch öffentlichkeitswirksame Initiativen und Vor­
reiterprojekte wie „Autism at Work“ von SAP können helfen,
das Thema positiver zu besetzen und andere zur Nachahmung
zu motivieren. Eine wichtige Rolle kommt hierbei auch der
Politik bzw. der öffentlichen Verwaltung zu. Erfreulicherweise
scheint diese u. a. in Deutschland und der Schweiz in den
letzten Jahren unbürokratischer zu werden und sich eher als
Integrationsdienstleister zu verstehen, der Unternehmen vor
Ort konkret bei der Inklusion berät und unterstützt. Diese Ent-
wicklung sollte weiter forciert werden.
PERSONALquarterly:
Welche Ansätze werden vonseiten der Politik
verfolgt, um die „Invalidisierung“ von Menschen mit Behinde-
rung zu vermeiden und die (Re-)Integration dieser in Arbeit und
Gesellschaft zu verbessern? Wo sehen Sie Deutschland, Öster­
reich und die Schweiz im internationalen Vergleich?
Böhm:
Generell gibt es international zwei unterschiedliche An-
sätze zur Förderung der beruflichen Inklusion. Zum einen sind
dies Quotensysteme, die z. B. in Deutschland und in Österreich,
aber auch in Indien und Japan zum Einsatz kommen. Hier
muss ein bestimmter Prozentsatz an Stellen in Unternehmen
einer gewissen Mindestgröße mit Menschen mit Behinderung
besetzt werden, ansonsten fällt eine Strafzahlung an, welche
wiederum für Inklusionsmaßnahmen verwendet wird. Zum
anderen gibt es Gesetzgebungssysteme wie in den USA, die
primär auf Chancengleichheit durch Schaffung gleicher Aus-
gangsvoraussetzungen abzielen (z. B. durch ein Recht auf not-
wendige Arbeitsplatzanpassungen). In der Schweiz kommt der
sog. „Invalidenversicherung“ eine wichtige Rolle zu, die im
Fall von Krankheit oder Behinderung finanzielle Unterstüt-
zung bietet und eine Rente zahlen kann. Seit mehreren Jahren
liegt das Augenmerk allerdings auf dem Ziel „Eingliederung
vor Rente“ und die Versicherung entwickelt sich zunehmend
zum Eingliederungsspezialisten, was für alle Stakeholder sehr
positiv ist. Generell weisen Länder wie Deutschland, Österreich
und die Schweiz im internationalen Maßstab eine vergleichs-
weise hohe Erwerbsquote von Menschen mit Behinderung auf.
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