PERSONALquarterly 4/2018 - page 54

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_DIE FAKTEN HINTER DER SCHLAGZEILE
PERSONALquarterly 04/18
D
er Spiegel fragt am 25.8. auf dem Titel: „Wer darf
rein?“ und plädiert für „eine rationale Flüchtlingspo-
litik“. Am 26.6. schreibt der Tagesspiegel über eine
„erfreuliche Entwicklung“: „Immer mehr Flücht-
linge finden einen Job.“ Handelsblatt und Welt, Frankfurter
Rundschau und taz diskutieren im August über den Spurwech-
sel, das Bleiberecht für gut integrierte Geflüchtete, deren Asyl-
antrag abgelehnt wurde.
Die medialen Diskussionen um Duldung, Abschiebung und
Spurwechsel hält Professor Matthias Lücke für zu kurz gegrif-
fen. Als Senior Researcher am Institut für Weltwirtschaft Kiel
und Honorarprofessor an der Universität Kiel beschäftigt er
sich bei Fragen zur Integration von Geflüchteten und Arbeits-
migranten in Deutschland mit der Sicht der Herkunftsländer.
„Menschen verhalten sich erstaunlich ähnlich, wenn sie ihre
Heimat verlassen – egal ob aus dem Kosovo oder von den Kap-
verden“, fand Lücke heraus.
Solche Erkenntnisse brachte er 2017 auch in die Studie zur
erfolgreichen Integration von Flüchtlingen ein, die das Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Energie beauftragt hatte. Die
Herangehensweise der Studie ist gesamtwirtschaftlich und sie
kulminiert in Handlungsempfehlungen wie diesen: Der Zeit-
raum bis zur Entscheidung über den Aufenthaltsstatus müsse
verkürzt werden, die Anerkennung von Qualifikationen müsse
stärker auf Teilanerkennungen setzen und ein punktebasiertes
System aus Sprache, Kompetenzen und Anerkennung sollte
das Potenzial zügig vermessen.
Professor Lücke verweist auf internationale Erfahrungen –
etwa die zwei Wochen, die die Niederlande und die Schweiz für
Asylverfahren benötigen, oder das Punktesystem für Zuwande-
rer in Kanada. Der Kieler Wissenschaftler betrachtet im Rah-
men des Projekts MEDAM – Mercator Dialogue on Asylum and
Migration den wechselseitigen Einfluss von Asylpolitik und
Einwanderung in die Europäische Union. Lücke hat keine Zwei-
fel: „Wenn wir mehr Möglichkeiten für legale Zuwanderung
schaffen, können wir die Zuwanderung zum einen entspre-
chend der Nachfrage nach Arbeitskräften steuern – auch für
Menschen ohne eine hohe berufliche Qualifikation. Zum ande-
ren können wir Einfluss auf die Qualifikationen nehmen, etwa
indemwir Ausbildungen in den Herkunftsländern fördern und
Auf Basis internationaler Erfahrungen und aktueller Praxisprojekte entwickeln
Wissenschaftler Empfehlungen für die Integration ausländischer Arbeitskräfte.
Zuwanderung valide erforschen
zur Bedingung für Einwanderung machen.“ Ausbildungspart-
nerschaften zwischen afrikanischen Ländern und je einem EU-
Land – damit die interessierten Arbeitsmigranten sich auf die
erforderlichen Qualifikationen für den Arbeitsmarkt und den
Erwerb einer Sprache konzentrieren können – hält Professor
Lücke für ein gutes Modell.
Sprach- und Fachtraining parallel betreiben
Diesen Unterschied betont auch Ruth Orenstrat als gravierend.
„Arbeitsmigranten können planen und sich vorbereiten, sie
können die deutsche Sprache schon in ihrer Heimat lernen“,
erklärt die Wirtschaftswissenschaftlerin. „Geflüchtete dagegen
kommen fast immer ungeplant, Hals über Kopf und mit trauma-
tischen Erlebnissen imGepäck in Deutschland an.“ Deshalb, so
ihre Arbeitsthese, muss die Betreuung von Anlaufstellen und in
Unternehmen engmaschiger sein als bei Arbeitsmigranten, da-
mit die Integration gelingt. ImRahmen des EU-geförderten Pro-
jekts Regional Integration Accelerators (RIAC) wirkt Orenstrat
am Institut für Arbeitswissenschaft (IAW) der Ruhr-Universität
Bochum an der prozessbegleitenden Evaluation mit. Dabei geht
es um die Entwicklung eines multiplikationsfähigen Ansatzes
für die schnelle und nachhaltige Integration Geflüchteter in die
nationalen Arbeitsmärkte. Sechs Projektpartner in Deutsch-
land, Dänemark, Italien und der Türkei erproben ihre Modelle
unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen.
In Deutschland basiert die praktische Integrationsarbeit auf
Erfahrungen in Offenbach. Dort eruierten mehrere Partner
den Bedarf in Kleinbetrieben, suchten unter den Geflüchteten
interessierte, lernbereite, disziplinierte und zu den Betrieben
passende Kandidaten und brachten beide Seiten zusammen.
Anders als üblich wurden Sprach- und Fachtraining nicht hin-
tereinander absolviert. Vielmehr wurden das Betriebsprak-
tikum, der allgemeine, aber auch an der Fachsprache des
Unternehmens orientierte Deutschunterricht und eine Mento-
renbegleitung parallel betrieben. Erfolgreich, denn in diesem
Vorläuferprojekt „Chance Handwerk“ blieben alle 15 Geflüchte-
ten amBall. Nun wird in einem größeren Rahmen versucht, die-
sen Erfolg zu sichern: Kleine dezentral organisierte Einheiten
sollen sich auf Branchen und Unternehmen fokussieren, um
den Integrationsprozess zu beschleunigen.
Ruth Lemmer
, Freie Wirtschaftsjournalistin in Duisburg
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