PERSONALquarterly 4/2018 - page 58

PERSONALquarterly 04/18
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SERVICE
_EVIDENZ ÜBER DEN TELLERRAND
U
m die Basis für eine rationale Alterssicherungspoli­
tik zu verbessern, fördert das Forschungsnetzwerk
Alterssicherung (FNA) der Deutschen Rentenversi­
cherung Bund wissenschaftlich fundierte Analysen
zur Alterssicherung. In diesem Zusammenhang sind auch Ein­
schätzungen zur Altersarmut relevant, die aufgrund ihrer Popu­
larität Einfluss auf das individuelle Vorsorgeverhalten entfalten,
welches über die spätere Absicherung im Alter mitentscheidet.
„Rentner in Deutschland müssen von nur 873 Euro leben.“
Solche Meldungen stehen für eine weit verbreitete Deutung
der Durchschnittsrente, die Altersarmut ganz offenkundig
erscheinen lässt. Tatsächlich weist die aktuelle Statistik der
Deutschen Rentenversicherung für 2017 Altersrenten von im
Durchschnitt 873 Euro monatlich aus. Bei der Interpretation
dieses Modellwerts ist jedoch zu berücksichtigen, dass er we­
der ein Bild über die dahinter stehende Verteilung vermittelt,
noch andere relevante Kontexte miterfasst.
Um eine Regelaltersrente zu erhalten, sind insgesamt nur
fünf Jahre mit Beitragszahlungen in die gesetzliche Renten­
versicherung (GVR) ausreichend. Selbstständige oder Beamte,
die nur zu Beginn ihres Arbeitslebens einige Jahre abhängig
beschäftigt, sonst aber dauerhaft in einem anderen Vorsorge­
system abgesichert waren, erhalten ebenfalls eine gesetzliche
Rente. Eine nicht erwerbstätige Hausfrau, die mehrere Kinder
erzieht, kann allein dadurch eine Rente beziehen. Stark unter­
durchschnittliche Renten aufgrund kurzer Versicherungszeit
sind häufig und ziehen die Durchschnittsrente rechnerisch
nach unten. Würden wir – wie in Österreich – 15 Jahre Versiche­
rungszeiten zur Voraussetzung für eine Altersrente festlegen,
hätte das erhebliche Auswirkungen auf die Durchschnittsrente.
Entscheidend ist, dass in der Regel keiner der genannten
Fälle im Alter allein auf die gesetzliche Rente angewiesen ist
oder sein wird, sondern durch andere Alterssicherungssys­
teme oder – im Fall von westdeutschen Hausfrauen – durch den
Ehepartner, der schon vor demRentenalter die Rolle des Haupt­
versorgers hatte, abgesichert ist. Eine niedrige Rente allein ist
demnach ein schlechter Indikator für Altersarmut. Maßgeblich
ist das gesamte Haushaltseinkommen aus der gesetzlichen,
betrieblichen und privaten Altersvorsorge sowie aus dem Part­
nereinkommen. Von (Unter-)Versorgung oder gar Altersarmut
in der Bevölkerung auf Basis der Durchschnittsrenten auszu­
gehen, führt also zu Fehlschlüssen.
Grundsicherungsbezug und Rente
Eine andere Möglichkeit, Altersarmut zu beziffern, bietet der
Anteil der Menschen, die Leistungen der Grundsicherung in
Anspruch nehmen. Auch hierbei gibt es einiges anzumerken:
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Der Anteil an Grundsicherungsbeziehern ist unter Älteren
deutlich niedriger als unter Jüngeren. Während 2015 insge­
samt rund zehn Prozent Leistungen aus Grundsicherungs­
systemen erhielten, lag die Quote bei den 65-Jährigen und
Älteren bei nur circa drei Prozent. Unter den Rentnern bezo­
gen sogar nur 2,5 Prozent zusätzlich Leistungen der Grund­
sicherung im Alter.
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Die Mehrzahl der Grundsicherungsbezieher hat keinen oder
einen sehr geringen Rentenanspruch. 24 Prozent der Grund­
sicherungsbezieher bezogen 2014 keine GRV-Rente. Nur
etwa 13 Prozent der Grundsicherung beziehenden Rentner
erreichen Versichertenrenten von über 600 Euro, während
bei 87 Prozent eine recht große Lücke zwischen der eigenen
Rente und dem Einkommensbedarf im Alter klafft.
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Studien zeigen, dass Versicherte mit niedrigen Renten den­
noch selten Grundsicherung beziehen. Etwa sechs Prozent
der Senioren mit einer Rente unter 600 Euro bezogen zu­
sätzlich Leistungen der Grundsicherung im Alter. Bei einem
Rentenzahlbetrag zwischen 600 und 700 Euro waren es vier
Prozent und zwischen 700 und 800 Euro sogar nur noch
1,4 Prozent.
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Die meisten Grundsicherungsbezieher werden nicht erst im
Rentenalter arm. 76 Prozent der 65- und 66-jährigen, die
Grundsicherung beziehen, erhielten auch unmittelbar vor
dem Renteneintritt Leistungen der Grundsicherung wie
Arbeitslosengeld II (33 Prozent), Grundsicherung wegen
Erwerbsminderung (30 Prozent) und Hilfe zum Lebensun­
terhalt (13 Prozent).
Risiken für die Rentenentwicklung
Die Fiktion eines weiten Teilen der Bevölkerung drohenden
Schicksals in Altersarmut kann nicht nur individuell zur Self
-fulfilling Prophecy werden, sondern indirekt auch die Funktio­
nalität des Alterssicherungssystems gefährden. So etwa, wenn
vorschnelle Festlegungen auf letztlich wenig Erfolg verspre­
chende Reformkonzepte – provoziert durch das dramatisie­
rende öffentlich-mediale Bild – eine sinnvolle und notwendige
Weiterentwicklung der Alterssicherung beeinträchtigen.
(Fehl-)Einschätzungen zur Altersarmut
Brigitte L. Loose,
Leiterin des Forschungsnetzwerks Alterssicherung (FNA) der Deutschen Rentenversicherung Bund in Berlin
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