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PERSONALquarterly 04/16
NEUE FORSCHUNG
_REKRUTIERUNG
Schweiz bzw. den MINT-Herbstreport 2014 für Deutschland).
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Hinsichtlich der Priorisierung dieser fünf zentralen Kriterien
attraktiver Arbeitgeber sind Alterskohortenunterschiede ins-
gesamt vernachlässigbar. Bedeutsame Differenzen finden sich
aber zwischen den Geschlechtern. Der Umstand, dass Frauen
mehr Wert auf flexible Arbeitszeitmodelle, Männer hingegen
mehr Wert auf Entwicklungsmöglichkeiten bzw. die Entloh-
nung legen, deutet darauf hin, dass männliche Stellensuchende
Stellenangebote tendenziell aus einer karriereorientierten und
weibliche Stellensuchende eher aus einer vereinbarkeitsorien-
tierten Optik selektieren. Insgesamt sollten Arbeitgeber ihre
Personalmarketing- und Rekrutierungsaktivitäten bezogen auf
MINT-Fachkräfte so gestalten, dass deutlich wird, welche kon-
kreten Anstellungsbedingungen man in Bezug auf die wich-
tigsten Arbeitgeberattraktivitätsmerkmale bieten kann.
Im Bewerbungsprozess rückt drittens die soziale und kul-
turelle Dimension einer möglichen Zusammenarbeit ins Zent
rum der Betrachtung. Die Möglichkeit, nicht nur den direkten
Vorgesetzten, sondern auch zukünftige Arbeitskolleginnen
und -kollegen auf Teamebene kennenzulernen und somit einen
eigenen Eindruck von der Persönlichkeit und den Fähigkeiten
der Schlüsselpersonen im Arbeitsprozess zu gewinnen, sind
die beiden wichtigsten Kriterien im Bewerbungsprozess. Auf-
fällig ist, dass für die jüngeren MINT-Fachkräfte das Team, für
die älteren die vorgesetzte Person stärker im Zentrum steht.
Darauf folgen die konkreten Entwicklungsmöglichkeiten und
die Besichtigung des Arbeitsplatzes. Die Gestaltung eines
professionellen Recruiting- und Personalselektionsprozesses
sollte folglich darauf setzen, Teammitglieder in angemes-
sener Form in den Bewerbungsprozess zu involvieren. Auf
diese Weise können sowohl die Arbeitnehmer- als auch die
Arbeitgeberseite frühzeitig abschätzen, wie gut sie zueinan-
der passen. Zugleich kann die Wahrscheinlichkeit möglicher
Fehlentscheide minimiert werden, liefert doch die personalpsy-
chologische Forschung Evidenzen dafür, dass die Integration
von Teammitgliedern in den Selektionsprozess zu besseren
Personalbeurteilungen bzw. Selektionsentscheiden führt (vgl.
Sarges, 2000).
Viertens liefert unsere Befragung differenzierte Erkennt-
nisse zur Bedeutung flexibler Arbeitszeitmodelle im Rahmen
der Arbeitgeber- und Stellenwahl. Im Rahmen der Diskussion
um die Arbeitswerte der Generation Y wurde häufig der Ein-
druck vermittelt, dass die Orientierung an einem ausgewo-
genen Verhältnis zwischen Berufs- und Privatleben und die
Nachfrage nach Homeoffice, Sabbaticals oder Teilzeit exklusive
Merkmale der jüngeren Alterskohorte seien. Unsere Daten le-
gen demgegenüber eine differenzierte Deutung nahe.
Zunächst zeigt sich, dass beide Alterskohorten gleicherma-
ßen den Anspruch formulieren, die Anforderungen zwischen
Berufs- und Privatleben möglichst ausgewogen gestalten zu
können und sich daher Möglichkeiten zur flexiblen Arbeitszeit-
gestaltung wünschen. Flexible Arbeitszeitmodelle und die Ori-
entierung an einer guten Vereinbarkeit zwischen Berufs- und
Privatleben sind somit kein exklusives Merkmal der Genera-
tion Y, sondern deuten eher auf eine generationenübergrei-
fend verankerte Wertorientierung hin. Die MINT-Fachkräfte
bevorzugen vor allem gleitende Arbeitszeiten, Überzeitenkom-
pensation sowie die Möglichkeit, für private Bedürfnisse frei
nehmen zu können. Zugleich gibt es gewisse mit der Lebens-
phase variierende Effekte bezüglich der nachgefragten Arbeits-
zeitmodelle: MINT-Fachkräfte der älteren Alterskohorte, die in
fester Partnerschaft leben oder eine Familie gegründet haben,
interessieren sich stärker für Angebote wie Homeoffice und
legen mehr Wert auf einen variablen Beginn und ein variables
Ende des Arbeitstags, möglicherweise um Familienpflichten
flexibler nachkommen zu können. Jüngeren, noch ungebun-
denen MINT-Fachkräften hingegen ist es wichtiger, Überzeit
kompensieren und für private Bedürfnisse frei nehmen zu
können, möglicherweise um eigenen Freizeitaktivitäten wie
z.B. Vereinssport besser nachgehen können. Aus den gewon-
nen Erkenntnissen zur Arbeitszeitflexibilität kann die Emp-
fehlung abgeleitet werden, dass Arbeitgeber im Dialog mit
Bewerbenden und Mitarbeitenden abstimmen sollten, welche
Formen und Modelle der Arbeitszeitflexibilität individuell ge-
wünscht werden bzw. ermöglicht werden können. Der Dialog
über individuelle Arbeitszeitmodelle sollte zudem als fester
Bestandteil in den Bewerbungs- und Mitarbeitergesprächen
verankert werden.
Die Studie unterliegt gewissen Limitationen hinsichtlich
ihrer Generalisierbarkeit. Die Stichprobengröße ist mit 600
Befragten zwar breit abgestützt, aufgrund des selektiven Feld-
zugangs aber nicht repräsentativ. Die Arbeitsmarktsituation
der Schweizer MINT-Fachkräfte ähnelt der von deutschen
MINT-Fachkräften in wesentlichen Merkmalen, jedoch kön-
nen kultur- oder arbeitsmarktbedingte Unterschiede in den
Arbeitswerten und Präferenzen bei der Stellensuche nicht
ausgeschlossen werden. In unserer Stichprobe sind MINT-
Fachkräfte mit Hochschulabschluss überproportional vertre-
ten. Gleiches gilt für Informatiker und Ingenieure (vgl. hierzu
Bundesagentur für Arbeit (2014) sowie Gehrig et al. (2014) für
die Schweiz). Allerdings gehören sowohl Informatikerinnen
als auch Ingenieurinnen zu den am Arbeitsmarkt am stärksten
umworbenen, da knappen Berufsgruppen.
Aus den Ergebnissen unserer Befragung lässt sich insgesamt
keine Notwendigkeit ableiten, die Personalgewinnungspraxis
im MINT-Segment konsequent nach Alterskohorten/Generati-
onen zu segmentieren. Anstelle von Generationenstereotypen
sollten Arbeitgeber darauf setzen, ihre Attraktivität als Ar-
5 Das Gehalt von MINT-Fachkräften in der Schweiz und in Deutschland ist im Schnitt deutlich höher als
das anderer Akademikergruppen. Laut MINT-Herbstreport beträgt „der Lohn eines MINT-Akademikers
im Jahr 2012 das 1,7-fache des Gehalts eines durchschnittlichen Erwerbstätigen“ in Deutschland
(MINT-Herbstreport 2014, S. 31).