Immobilienwirtschaft 9/2015 - page 29

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keit der Verkehrsteilnehmer auf. Schritt für Schritt organisiere
ich ihren Tag. Ihre Reihenhäuschensiedlung liegt gleich neben
einem furchtbar hässlichen Einkaufsparadies mit Parkplatz da-
vor. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal praktisch finden
könnte. Doch jetzt ist jeder noch so kurze Weg hart erkämpft.
Optiker, Friseur, Arzt, krosse Brötchen, Leberwurst, Fußpflege
… alles nah dabei. Das sieht für viele auf dem Land, etwa in der
Toskana, deutlich schlechter aus. Auch deshalb werden ländliche
Gebiete noch stärker Einwohner verlieren undMetropolregionen
zulegen.
Aber zurück zu meiner Mutter in die Bremer Realität: Vor
Kurzem haben wir uns dort einige Altenheime, pardon: „Seni-
orenresidenzen“, angeschaut. Für 2,6 Millionen Pflegebedürftige
gibt es angeblich 13.000 Pflegeeinrichtungen inDeutschland. Die
allermeisten draußen amStadtrand, mit viel Abstandsgrün drum
herum. Die Alten unter sich. Aufbewahrungsstätten, teuer für
den Einzelnen und die Gesellschaft, aber billig und ohne Ambi-
tion zusammengebaut. Eins schlechter als das andere. Es stinkt
nach Urin, Reinigungsmittel und Essensresten. Dort finden sich
in der Regel nur Willenlose und Bettlägerige, die sich kurz vor
knapp dorthin einliefern lassen. Alles in allem eine Schande für
die Gesellschaft. Eine Hölle der Ignoranz, Gedankenfaulheit und
des Zynismus. Ist das auch die Zukunft der nächsten Generation,
der Babyboomer in der Toskana, die ab 2020 verstärkt das Altern
entdecken?
ALTERN IST NICHT AUTOMATISCH MIT GEBRECHLICHKEIT VER-
BUNDEN
Das zukunftsInstitut schreibt dazu: Nach Meinung der
Deutschen ist man heute erst mit 77 Jahren alt. Und die Alten
bleiben länger gesund. Die „healthy life expectancy“ liegt heute
für deutsche Männer durchschnittlich bei 93 Prozent, also bei 70
von 76 Jahren, für Frauen bei 91 Prozent, jeweils der zweite Platz
weltweit. Dabei fühlen sie sich auch noch zehn bis 20 Jahre jünger!
Das sind gute Nachrichten für die Partygemeinde in der Toskana:
Die neuen, aktiven Alten werden viel länger erwerbstätig und
mobil sein. Und sich auch verstärkt freiwillig engagieren. Dabei
wird deutlich, dass das gegenwärtige Bild vomAlter als eine Zeit,
in der man sich ausschließlich ausruht und erholt, in Kürze nicht
mehr zutreffend ist. Die aktive Übernahme von gesellschaftlichen
Pflichten ist angesagt, so das zukunftsInstitut.
WAS BEDEUTET DAS FÜR DIE BABYBOOMER?
Auch hier hilft die Idee
von der solidarischen, urbanen, durchmischtenGesellschaftwei-
ter. Neue Formen des Zusammenlebens werden zurzeit verstärkt
ausprobiert: Mehrgenerationenwohnen, Alten-WGs, Cohousing,
Seniorengenossenschaften oder Wohnen für Hilfe sind nur eini-
ge Beispiele. Durchmischtes, nachbarschaftliches Wohnen lässt
Menschen leichter zusammenfinden und gemeinschaftlich leben.
Die Generationen bieten sich wechselseitig Dienstleistungen
wie Teile der Haushaltsführung, Kinder- und Seniorenbetreuung
an. Der Service wird frei vereinbart. Beratungsstellen unterstüt-
zen bei der Gründung und Durchführung. Als Modell wurde das
Mehr-Generationen-Haus bereits vielfach erfolgreich umgesetzt.
Auch Seniorengenossenschaften vermitteln alltagsnaheDienstlei-
stungen zwischen den Mitgliedern. Dabei erarbeiten sich aktive
Mitglieder eine Gutschrift, die sie bei Eigenbedarf für Hilfeleis-
tungen verwenden können.
Wohnen für Hilfe bringt in Bremen Senioren mit Studenten
zusammen. Wohnung für Hilfe in Haus und Garten. Cohou-
sing verbindet private Wohnungen oder Häuser mit Gemein-
schaftseinrichtungen. Sie werden nachbarschaftlich geplant und
bewirtschaftet. Zu den Einrichtungen zählen auch Küchen, in
denen zusammen gekocht werden kann. Auch ein Waschsalon,
eine Kita, Coworking Space, Internetcafé, Heimkino, Bibliothek,
Werkstatt und Fitnessstudio kann gegebenenfalls genutzt werden.
In der Schweiz gibt es das DienstbotenheimOeschberg. Dort
werden Knechte und Mägde, die in das Rentenalter gekommen
sind, in ihrer gewohnten Umgebung bis ins hohe Alter begleitet.
Sie arbeiten, an ihre Möglichkeiten angepasst, wie gewohnt, im
Stall, Haushalt oder Wald. Die „Casa Verdi“ in Mailand ist das
von Giuseppe Verdi gestiftete Altersheim für etwa 60 Musiker
und Opernsänger. Altern wird deutlich individueller, mobiler,
gesünder, engagierter, länger, mehr.
WAS GEHT DAS DIE IMMOBILIENWIRTSCHAFT AN?
Die Gesellschaft
wird sich dadurch tiefgreifend verändern. Städtebau, Wohnungs-
bau und Verkehr werden massiv von der Alterung betroffen sein.
Die Alten sind die einzige noch stark wachsende Nutzergruppe.
Ihre Bedürfnisse, Vorstellungen und Wünsche sind aber von der
Immobilienwirtschaft nur unzureichend erkannt. Ein komplettes
Umdenken ist erforderlich.
Unsere „Seniorenresidenzen“ sind alles in allem eine Schande für die
Gesellschaft. Eine Hölle der Ignoranz, Gedankenfaulheit und des Zynismus.
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ZUR PERSON
Eike Becker
leitet seit Dezember 1999 zusammen mit Helge Schmidt das Büro Eike Becker_Architekten in Berlin.
Internationale Projekte und Preise bestätigen seitdem den Rang unter den erfolgreichen Architekturbüros in Europa. Eike Becker_Architekten arbeiten
an den Schnittstellen von Architektur und Stadtplanung mit innovativen Materialien und sozialer Verantwortung.
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