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auch, gegen Widerstände zu arbeiten und
den Mut zu haben, die Verantwortung für
schmerzvolle Maßnahmen zu übernehmen.
Diese fangen beim Desinvestment von Unter-
nehmensteilen an, die nicht mehr zum digitalen
Portfolio passen – vielleicht aber aus Sicht der
Belegschaft gefühlt das Herz und die Identität
des Unternehmens ausmachen. Ein Verlags-
haus, das seine Druckereien verkauft? Ein
Elektronikkonzern ohne eigene Fabriken? Eine
Bank ohne eigenen Zahlungsverkehr? Für viele
Mitarbeiter, die in diesen Branchen großgewor-
den sind, Dinge, die fast unvorstellbar sind.
Umso verständlicher ist deren Erschütterung,
wenn das eigene Unternehmen diese Bereiche
verkauft – ein Kulturschock!
Sie hören auf der strategischen Ebene aber
nicht auf, sondern erfordern das systematische
Verankern einer neuen, da veränderten Unter-
nehmenskultur. Dies erfordert ein hohes Maß
an Selbstreflektion und Vorbildfunktion gerade
im Führungsteam. So hat uns jüngst ein CEO
berichtet, dass er den digitalen Wandel in sei-
nem Unternehmen zwar initiiert, für ihn dies
aber die Erkenntnis zur Folge hatte, dass er auf-
grund seines Erfahrungshintergrundes und sei-
nes Werdeganges selbst „ein alter Zopf ist“, der
damit früher oder später die Wachstumspoten-
ziale des Unternehmens beschränken könnte.
Mit den Worten
„Ich würde immer nur ein digi-
taler Amateur bleiben und wir brauchen Profis in
diesem Bereich“
machte der den Weg frei für
einen Nachfolger mit einer digitalen DNA im
Lebenslauf. Dieser CEO hat damit nicht nur das
Wohl des Unternehmens über seine eigene Kar-
riere gestellt, sondern mit diesem Schritt ins
Unternehmen hinein die zentrale Botschaft ge-
sendet, dass die digitale Transformation vor nie-
mand halt macht – nicht einmal vor dem obers-
ten Boss. Mithin war dies ein starkes Signal für
die Unternehmenskultur dieses Unternehmens
von morgen, aber auch mit den tiefen Wurzeln
einer bestehenden positiven Wertstruktur.
Mehr zum Wipro Center for Business Resilience
men einer Situation gleich, die sich trefflich mit
einem Zitat der roten Königin aus „Alice im
Wunderland“ umschreiben lässt:
„Behäbige Ge-
gend! […] Hierzulande musst du so schnell ren-
nen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck
bleiben willst. Um woandershin zu kommen
[oder im Wettbewerb aufzuholen], muss man
noch mindestens doppelt so schnell laufen.“
Diese branchen- und organisationsspezifischen
Zeitverständnisse spiegeln sich häufig auch in
den Controllingprozessen und -systemen wie-
der. Operativ beispielsweise können sich diese
Zeitverständnisse in der Häufigkeit der Fore-
castingzyklen oder auch dem jeweiligen (auch
wechselnden) Forecastinghorizont niederschla-
gen und gleichzeitig eine höhere Flexibilität und
Anpassbarkeit an operative Controllingsysteme
stellen. Aber auch das Management hat in
dynamischeren Kontexten ein anderes Informa-
tionsbedürfnis, sodass auch Simulationen und
Echtzeitdaten an Bedeutung gewinnen. Trans-
formationsprozesse finden somit nicht nur auf
der Kundenseite statt, sondern beeinflussen
grundlegend die gesamte Organisation und ihre
Unternehmenssteuerungsprozesse.
Problemfeld 7: „Das Weiterbe-
schreiten des Veränderungspfades
stockt, weil der Mut fehlt, die alten
Zöpfe komplett abzuschneiden“
und Problemfeld 8: „Die Verände-
rungen werden nicht in der
Unternehmenskultur verankert.“
Diese beiden Problemfelder hängen eng zu-
sammen. Selbst wenn der digitale Wandel er-
folgreich auf den Weg gebracht wurde und sich
erste Erfolge zeigen, besteht die große Gefahr,
Angst vor der eigenen Courage zu bekommen.
Man bleibt auf halbem Wege stehen oder fällt
sogar wieder in die alte Welt zurück. Das Bei-
spiel KarstadtQuelle wurde eingangs bereits
erwähnt. Erfolg bedarf letztendlich der konse-
quenten Umsetzung – oder wie die österreichi-
sche Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschen-
bach zu sagen pflegte:
„für das Können gibt es
nur einen Beweis: das Tun“
.
Eine Reform an Haupt und Gliedern, wie sie die
digitale Transformation erfordert, ist kein Zu-
ckerschlecken.
Führung heißt hier immer
individuell und schnell Probleme selber zu ana-
lysieren – alles Aspekte, durch die sich klassi-
sche Controlling-Anwendungen bisher eher
nicht ausgezeichnet haben. Für den
CIO und
die IT gilt es hier, den Schulterschluss mit
dem Controlling
zu suchen, um sich intern ge-
meinsam als Business Partner 2.0 zu positio-
nieren. Nur dann wird es möglich sein, den
Grad an Steuerungstransparenz zu erreichen,
den die schnell drehenden digitalen Geschäfts-
modelle erfordern.
Stolperstein 6: Quickwins stellen
sich nicht ein bzw. werden nicht
systematisch geplant
Transparenz bzw. Sichtbarkeit bedarf es auch
für etwas Grundlegendes im Transformations-
prozess:
Die ersten Erfolge!
Sie
reduzieren
Unsicherheit
in Veränderungsprozessen für
Mitarbeiter aber auch für Kunden. Sie helfen
zudem, Kritikern und Zweiflern den Wind aus
den Segeln zu nehmen. Hier ist das richtige
Maß zwischen hoher Geschwindigkeit und den
„richtigen“ ersten Erfolgsmeldungen zu finden.
Gerade mit Blick auf junge Kundensegmente
muss beim Sprung in die Smartphone-Welt der
erste Schuss sitzen, denn einen zweiten gibt es
oft nicht. Ebenso wie attraktive Webseitenan-
gebote oder Apps teils lawinenartig über Mund-
zu-Mund-Propaganda neue Kunden und Nutzer
gewinnen, gilt oft auch der umgekehrte Fall. Die
App, die nicht funktioniert, bzw. der nicht ge-
plante oder schlecht platzierte Quickwin wird
schnell zum ersten Sargnagel.
Was „schnell“ bedeutet, bedarf einer offenen
kritischen Diskussion, denn Organisationen und
Branchen haben ein eigenes Zeitverständnis.
Dies lässt sich oft an einfachen Faktoren erken-
nen. So fand die Photokina als Leitmesse der
Foto- und Kameraindustrie im Zweijahresrhyth-
mus statt. Dies spiegelt auch den Zyklus wieder,
in dem die renommierten analogen Kameraher-
steller, wie Leica oder Agfa, ihre Produktneuhei-
ten entwickelten und vorstellten. Die neuen
Wettbewerber im Bereich der Digitalfotografie
kamen hingegen aus dem Elektronik- bzw.
Computerbereich und waren es gewohnt, neue
Produkte im Halbjahrestakt auf den Markt zu
werfen. Diese unterschiedlichen Branchen-
dynamiken und deren Aufeinanderprallen kom-
CM November / Dezember 2015