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SPEZIAL KANZLEIEN
_RECHTSPRECHUNG
spezial Kanzleien im Arbeitsrecht 2016
A
rbeitsrecht ist Richterrecht!
Dieser in den Fünfzigerjahren
geprägte Grundsatz wird mit
Blick auf die in den vergan-
genen Jahrzehnten in Kraft getretenen
zahlreichen neuen Gesetze immer wie-
der infrage gestellt. Dass Arbeitsrecht
aber gleichwohl Richterrecht bleibt,
zeigt der Blick auf das Rechtsprechungs-
jahr 2015, in dem sich wieder einmal ge-
zeigt hat: Nicht der Mangel an Gesetzen
ist häufig der Grund für den Gang zu
den Arbeitsgerichten, sondern die Viel-
falt der Arbeitswelt, bei der sich Sachver-
halte entwickeln, an die der Gesetzgeber
bei Formulierung seiner Normen offen-
sichtlich nicht gedacht hat. Neben dieser
Aufgabe müssen sich die Richter aber
auch noch zunehmend mit der Frage
befassen, ob „alte“ und bisher klare
Gesetzesformulierungen dem Maßstab
höherrangigen, gegebenenfalls europä-
ischer Rechtsnormen noch standhalten.
Die nachfolgenden Highlights aus der
Rechtsprechung der vergangenen Mona-
te sollen diese vielschichtige Aufgaben-
bewältigung des Bundesarbeitsgerichts
verdeutlichen.
Urlaubsanspruch: Altes Gesetz versus
moderne Beschäftigungsformen
Mit einer Entscheidung aus dem Febru-
ar 2015 legt das Bundesarbeitsgericht
den Finger in eine seit Langem offene
Wunde. Es geht wieder einmal um die
Frage, ob der Gesetzgeber Lösungen für
die Urlaubsberechnung und Abwick-
Von
Michael Miller
(Red.) und
Thomas Muschiol
lung von Teilzeitbeschäftigten vorhält.
Die Antwort lautet nein, denn das Bun-
desurlaubsgesetz stammt aus Zeiten,
in denen der Gesetzgeber lediglich die
Vollzeittätigkeit im Auge hatte. So ist
bis heute dem Gesetz selbst nicht zu
entnehmen, wie ein Urlaubsanspruch
von Teilzeitbeschäftigten zu berechnen
ist, sodass hier schon seit eh und je die
Rechtsprechung als Lückenfüller her-
halten musste. Schon gar nicht kommt
das Gesetz mit modernen Arbeitsfor-
men zurecht, bei denen Arbeitnehmer
unterjährig von Teilzeit in Vollzeit und
umgekehrt wechseln. Um die damit
zusammenhängenden Probleme eini-
germaßen praxisgerecht in den Griff
zu bekommen, sind hier teilweise Ta-
rifvertragspartner eingesprungen. So
beispielsweise im Tarifvertrag für den
öffentlichen Dienst (TVöD). Leider kei-
ne rechtmäßige Lösung, so entschied
das BAG im Hinblick auf seine Pflicht
zum Blick auf höherrangiges Recht.
Eine solche tarifliche Klarstellung, sei
wegen des Verstoßes gegen das Verbot
der Diskriminierung von Teilzeitkräf-
ten unwirksam.
Urteil vom 10.2.2015, 9 AZR 53/14
Datenschutz: BAG als Lückenbüßer für
den Verzug des Gesetzgebers
Unter welchen Voraussetzungen und
mit welchen technischen Geräten dür-
fen Mitarbeiter heimlich überwacht
werden? Das war eines von vielen wich-
tigen Themen, das im sogenannten
Beschäftigtendatenschutzgesetz eini-
germaßen rechtssicher definiert wer-
den sollte. Das Gesetz fiel bekanntlich
politischen Querelen zum Opfer und
schlummert mittlerweile seit vier Jah-
ren in den parlamentarischen Archiven.
Den Streitfällen mit Berührung zum Da-
tenschutz kann sich das Bundesarbeits-
gericht jedoch nicht mit dem Hinweis
auf „Nichtstun des Gesetzgebers“ ent-
ziehen. So muss es weiterhin die Recht-
mäßigkeit der Mitarbeiterüberwachung
nach dem Maßstab des allgemeinen
Bundesdatenschutzgesetzes beurteilen,
welches nach einhelliger Auffassung
aller Fachleute für die Umsetzung auf
die betriebliche Praxis völlig untaug-
lich ist. Die Folge: Das BAG bewegt
sich in einem Urteil aus dem Februar
2015 gezwungenermaßen „freihändig“
und stellt fest: Die Überwachung eines
Arbeitnehmers, ohne dass diese auf
konkreten Tatsachen beruht, ist eine
rechtswidrige Verletzung des allgemei-
nen Persönlichkeitsrechts und kann ei-
nen Entschädigungsanspruch in Form
eines Schmerzensgeldes begründen.
Urteil vom 19.2.2015, 8 AZR 1007/13
AGB im Arbeitsrecht: BAG muss
Schuldrechtsreform ausbaden
Dieses Datum dürfte jedem Arbeits-
rechtler präsent sein: Am 2. Januar
2002 trat die Schuldrechtsreform in
Kraft. Eingefügt wurde damit auch das
Recht der Allgemeinen Geschäftsbe-
dingungen (AGB) in das Bürgerliche
Gesetzbuch. Dies mit einer – mancher-
orts als parlamentarisches „Versehen“
bezeichneten – Folge: Die Vorschriften
zum AGB-Recht sind seitdem auch auf
Arbeitsverträge anzuwenden. Dass die
damit zusammenhängenden Ausle-
Ausgewählte Klassiker aus Erfurt
RÜCKBLICK.
Urlaub, Streik, AGB: Das BAG hat sich in den vergangenen Monaten mit
vielen Facetten des Arbeitsrechts beschäftigt, wie unser Rechtsprechungsreport zeigt.