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spezial Kanzleien im Arbeitsrecht 2016
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an
THOMAS MUSCHIOL
ist Rechtsanwalt und
Fachautor in Freiburg.
rung am „Hochseil mit Todesradnum-
mer“ – so schaurig-schön klingt. In der
Sache betont das BAG, dass es immer auf
eine „Gesamtwürdigung aller Umstände
des Einzelfalls“ ankommt. Und gewürdigt
werden Sachverhalte bekanntlich gar
nicht vom BAG, da dieses als Revisions-
instanz nur über Rechtsfragen entschei-
det. Insoweit hat das BAG hier also keine
Grundsatzentscheidung gefällt, sondern
nur Fehler der Vorinstanz bei der Tatsa-
chenermittlung moniert. Auch nach der
Zirkus-Entscheidung bleibt es also beim
Gleichnis vom „Puddingnageln“.
Urteil vom 11.8.2015, 9 AZR 98/14
Leiharbeitnehmer immer häufiger für
Schwellenwerte mitzuzählen
Schon in früheren Urteilen bestätigte
das BAG, dass Leiharbeitnehmer bei
betriebsverfassungsrechtlichen Schwel-
lenwerten, etwa bei der Ermittlung der
Zahl der Arbeitnehmer für die Betriebs-
ratsgröße (§ 9 BetrVG) oder für die Zahl
der Beschäftigten nach § 111 BetrVG,
mitzuzählen sind. Mit dem Urteil im
November kam nun eine weitere Gren-
ze hinzu: Ab einem Schwellenwert von
8.000 Arbeitnehmern ist die Wahl der
Arbeitnehmervertreter in den Aufsichts-
rat nach dem Mitbestimmungsgesetz
nicht mehr als unmittelbare, sondern
als Delegiertenwahl durchzuführen.
Wahlberechtigte Leiharbeitnehmer auf
Stammarbeitsplätzen zählen hier nun
mit, entschied das BAG. Schließlich ver-
weise das Mitbestimmungsgesetz jeden-
falls für die Aufsichtsratswahl auf den
betriebsverfassungsrechtlichen Arbeit-
nehmerbegriff des § 5 Abs. 1 BetrVG.
Beschluss vom 4.11.2015, 7 ABR 42/13
Schwerbehinderung: Benachteiligung
durch niedrigere Abfindung
Neben Urlaub, AGB oder Scheinselbst-
ständigkeit spielen häufig auch das
Thema Diskriminierung“ eine Rolle
beim BAG. Im konkreten Fall ging es um
einen Sozialplan, der älteren Schwerbe-
hinderten eine bis zu 30.000 Euro nied-
rigere Abfindung zugesprochen hatte
als älteren, nichtbehinderten Arbeitneh-
mern. Dies ging auf eine Regelung über
einen pauschalierten Abfindungsbetrag
für Arbeitnehmer zurück, die wegen ih-
rer Schwerbehinderung rentenberech-
tigt sind. Das BAG sah darin jedoch eine
an die Behinderung knüpfende Benach-
teiligung. Denn mit der Berechnungsfor-
mel für nicht schwerbehinderte Arbeit-
nehmer würde Schwerbehinderten die
höhere Abfindung zustehen. Letztere –
auch wenn sie nach einem Arbeitsplatz-
verlust rentenberechtigt sind – haben
daher Anspruch auf die gleiche Abfin-
dung wie nichtbehinderte Kollegen.
Urteil vom 17.11.2015, 1 AZR 938/13
Unbestimmte Rechtsbegriffe: Auch
hierfür ist das BAG zuständig
Mitarbeitern, die in der Nacht arbei-
ten, muss ein angemessener Nachtar-
beitszuschlag oder eine angemessene
Anzahl bezahlter Feiertage gewährt
werden. So steht es seit Jahr und Tag in
§ 6 Abs. 5 des Arbeitszeitgesetzes. Was
aber verbirgt sich hinter dem Begriff
„Angemessenheit“? Seit dem Urteil aus
dem Dezember 2015 ist nun klar: Regel-
mäßig ist ein Zuschlag in Höhe von 25
Prozent angemessen, bei dauerhafter
Nachtarbeit beläuft er sich regelmäßig
auf 30 Prozent. Nur schade, dass das
BAG mit dem Wörtchen „regelmäßig“,
selbst wieder zu einem unbestimmten
Rechtsbegrifff greift. Juristen aber wis-
sen: „Regelmäßig“ bedeutet, dass es
auch Ausnahmen nach oben oder unten
geben kann. Näheres dazu vielleicht im
nächsten Jahresbericht aus Erfurt.
Urteil vom 9.12.2015, 10 AZR 423/14
Es ist schon Tradition, dass das BAG zu Beginn des Jahres seinen Jahresbericht
vorstellt. Danach haben die obersten Arbeitsrichter 2015 knapp 2.500 Verfahren erle-
digt. Der Ausblick zeigt zudem: Es bahnt sich ein Grundsatzurteil zum Mindestlohn an.
Meist im Februar gibt das Bundesarbeitsgericht (BAG) die statistischen Daten des
Vorjahrs bekannt. Für das Jahr 2015 stellte das BAG nun fest: Die Zahl der Streitfälle,
die 2015 vor dem BAG landeten, blieb – auch wegen der guten Situation am Arbeits-
markt – konstant bei rund 2.300. Die durchschnittliche Dauer der Verfahren lag laut BAG
zwischen acht und neun Monaten. Im Jahr zuvor mussten im Durchschnitt noch über
neun Monate eingeplant werden.
Ein Fazit des Jahres 2015: Die noch Anfang des vergangenen Jahres befürchtete Prozess-
flut zum Mindestlohn ist ausgeblieben. Die Präsidentin des BAG, Ingrid Schmidt, zog
deshalb bei der Vorstellung des Jahresberichts den Schluss, dass sich die Arbeitgeber
an das Gesetz hielten und die Kontrollen effizient seien. Dies dürfte jedoch nur die rein
arbeitsrechtliche Sicht auf das Thema spiegeln: Da der Gesetzgeber für Fragen rund
um die Lohnuntergrenze beispielsweise keine bestimmte Rechtswegzuweisung im
Mindestlohngesetz vorsieht, beschäftigen sich auch andere Gerichte mit Mindestlohn-
fragen. So sind für Rechtsmittel gegen die Bußgeldbescheide des Zoll beispielsweise die
Amtsgerichte zuständig, bei Forderungen der Sozialversicherungsbehörden kommen die
entsprechenden Sozialgerichte ins Spiel.
Unabhängig von der Anzahl der Klagen blieben einige inhaltliche Fragen zum Mindest-
lohn bislang zumindest höchstrichterlich ungeklärt. Hier soll das BAG nun Abhilfe schaf-
fen – so die Parteien den Rechtsstreit nicht vorher beenden. Denn die BAG-Präsidentin
kündigte für den Herbst ein grundsätzliches Urteil dazu an, wie Sonderzahlungen auf
die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro anzurechnen seien. Auch im Zusammenhang mit
Bereitschaftsdienst könnten 2016 noch Konkretisierungen aus Erfurt folgen.
Rück- und Ausblick des BAG
JAHRESBERICHT 2015
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