Personalmagazin 6/2018 - page 66

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RECHT
_MINDESTLOHN
personalmagazin 06/18
kanten bis hin zu der ungeklärten Fra­
ge, wann denn ein Ehrenamt vorliegt,
sodass das Mindestlohngesetz gar nicht
zum Tragen kommen soll.
Lösen müssten diese Fragen eigentlich
die Arbeitsgerichte, denn das Mindest­
lohngesetz ist inhaltlich gesehen eine
arbeitsrechtliche Materie. Für die Praxis
spielen allerdings die sozialversiche­
rungsrechtlichen Begleiterscheinungen
die größere Rolle. Mit anderen Worten:
Bei Betriebsprüfungen der Sozialversi­
cherung wird inhaltlich Arbeitsrecht ge­
prüft. Aufgrund dessen kann es auf dem
Wege der sogenannten Phantomlohn­
festlegung zu einer Nachforderung von
Sozialversicherungsbeiträgen kommen,
selbst wenn zwischen Arbeitgeber und
Arbeitnehmer überhaupt kein Streit be­
steht und somit auch kein Arbeitsgericht
entscheiden kann.
Ein Beispiel: Ein Betriebsprüfer der
Sozialversicherung moniert die Unter­
schreitung des Mindestlohns. Im Ab­
schlussgespräch hält der Personalleiter
dagegen, dass ein Teil der Tätigkeit
Rufbereitschaft und diese Zeiten nicht
mindestlohnpflichtig seien. Der Betriebs­
prüfer räumt zwar ein, dass Rufbereit­
schaft nicht mindestlohnpflichtig ist, die
geprüfte Zeit sei aber deswegen als voll­
wertige Arbeitszeit zu bewerten, weil der
Mitarbeiter in sehr kurzer Zeit verpflich­
tet sei, den Arbeitsplatz aufzusuchen.
Über die Entscheidungserheblichkeit
dieser typischen Situation, bei der es
um unterschiedliche arbeitsrechtliche
Auffassungen oder Sachverhaltsbe­
wertungen geht, ließe sich in einem
arbeitsrechtlichen Verfahren trefflich
streiten. Beide Seiten haben Argumente
für unterschiedliche Lösungen. Welche
Auslegung richtig ist, dass wird im so­
zialversicherungsrechtlichen Kontext
jedoch gerade nicht durch eine Ent­
scheidung des Arbeitsgerichts, geklärt.
Sofern sich ein Betriebsprüfer nicht
ausnahmsweise einmal von der arbeits­
rechtlichen Argumentation überzeugen
lässt, ist das Ergebnis absehbar und en­
det in einem Beitragsbescheid, in dem
die behauptete Unterschreitung des
Mindestlohns zu einer Beitragsnachfor­
derung führt (lesen Sie mehr dazu im
Kasten „Sozialversicherung“).
Fazit: Die eigentlichen Prüfer des
Mindestlohns sind die Betriebsprüfer
der Sozialversicherung. Viele Praktiker
wünschten sich jedoch, dass generell die
Arbeitsgerichte darüber entscheiden, ob
eine Feststellung von Mindestlohnver­
stößen richtig ist oder nicht.
Praxisproblem 3: Die Berechnung des
Mindestlohns auf Stundenbasis
Dem Mindestlohngesetz liegt das Prin­
zip zugrunde, dass Arbeitnehmer nach
Arbeitsstunden abgerechnet werden.
Dementsprechend sind bei einer Be­
triebsprüfung des Zolls und der So­
zialversicherung (wegen der Phan­
tomlohngefahr) stets die tatsächlich
geleisteten Arbeitsstunden maßgebend.
Dazu kommt, dass das Mindestlohnge­
setz von einer strengen monatlichen
Betrachtungsweise ausgeht. Für beson­
dere Branchen und für alle geringfügig
Beschäftigten besteht darüber hinaus
die Verschärfung, dass zusätzliche Do­
kumentationen über Beginn und Ende
der Arbeitszeit vorliegen müssen.
Dass mittlerweile ein Großteil der
Beschäftigungsverhältnisse auf monat­
licher Gehaltszahlung basiert und es
eine Vielzahl von Vertragsverhältnissen
gibt, bei denen schwankende Arbeits­
zeitvolumen bei gleichbleibendem Ge­
halt bestehen, wird dabei ignoriert. Als
einziges Korrelat hält hier das Mindest­
lohngesetz die Möglichkeit bereit, über
ein gesondert zu vereinbarendes Über­
stundenkonto von Fall zu Fall den zu­
lässigen Mindestlohn zu unterschreiten,
um dann innerhalb bestimmter Fristen
einen Ausgleich herbeizuführen.
Dass die Stunden- und Monatsbe­
trachtung des Mindestlohngesetzes für
die Praxis oft untauglich ist, hatte sich
schon wenige Wochen nach Inkrafttre­
ten anhand von zahlreichen Anfragen
gezeigt. Vor allem bei den gerade im
Niedriglohnbereich oft vorkommenden
Tätigkeiten, wie Winterdienst oder an­
deren tätigkeitsimmanenten Rahmen­
bedingungen, lässt sich eine praktische
Vertragsgestaltung über das bürokra­
tische Überstundenkonto nicht bewerk­
stelligen. Dies musste auch die damalige
Arbeitsministerin Andrea Nahles ein­
räumen, die – gewissermaßen als Dul­
dungserlass – akzeptierte, dass auch
mit Arbeitszeitvereinbarungen, die eine
durchschnittliche Arbeitszeit beinhal­
ten, operiert werden könne. Eine für
die Praxis brauchbare Lösung, ist ein
solches Ministerschreiben jedoch nicht,
sodass in arbeits- und sozialversiche­
rungsrechtlicher Sicht bei Arbeitszeitab­
reden mit durchschnittlicher Arbeitszeit
alles andere als Klarheit besteht.
Fazit: Das Mindestlohngesetz ist bei
einer Vielzahl von Vertragsgestaltungen
nur über Umwege anwendbar. Dies führt
dazu, dass bei sämtlichen Vertragsver­
hältnissen, bei denen die Arbeitszeit ent­
weder keine entscheidende Rolle spielen
soll oder auf flexiblen Regelungen mo­
natsübergreifend basiert, improvisiert
werden muss – auf Kosten der Rechts­
sicherheit. Der Praktiker im Unterneh­
men wünscht sich daher in diesen Fällen
eine Gesetzesänderung, um die für die
Praxis risikoreiche reine Duldung von
durchschnittlichen Arbeitszeitvereinba­
rungen auf eine gesetzliche Grundlage
zu stellen.
Checkliste
Das müssen Sie als Arbeitgeber
für den Mindestlohn prüfen (HI7310366)
Die Arbeitshilfe finden Sie im Haufe
Personal Office (HPO). Internetzugriff:
ARBEITSHILFE
THOMAS MUSCHIOL
ist
Rechtsanwalt im Arbeits- und
betrieblichen Sozialversiche-
rungsrecht in Freiburg.
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