Wirtschaft und Weiterbildung 5/2019 - page 16

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wirtschaft + weiterbildung
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nare setzen. Wir merken aber, dass viele diese Möglichkeiten
noch nicht kennen oder – das gilt insbesondere beim konse-
quenten Onboarding – nicht nutzen. Zudem müssen wir uns
stärker die Frage stellen, was eigentlich bei diesen Lernange-
boten herumkommt. Vielen Lernenden fällt es schwer, die In-
halte in der Praxis anzuwenden. Wenn alle im Team die Dinge
immer rechts herum machen und jetzt kommt jemand aus
dem Seminar und hat gelernt, dass es links herum besser geht,
stößt das nicht immer auf Begeisterung. Da gilt man schnell als
Schlaumeier. Wir denken Qualifizierung künftig noch individu-
eller und auch teambezogen. Sie können Menschen qualifizie-
ren, wie Sie wollen – das bringt nichts, wenn in der Führungs-
und Teamkultur etwas nicht stimmt. Außerdem sehen viele
Beschäftigte Präsenzseminare mehr als Raum der Begegnung
mit anderen. Wenn wir mehr Austauschmöglichkeiten brau-
chen, sollten wir diese schaffen. Bei Weiterbildungen geht es
aber darum, dass Erlerntes auch im Berufsalltag ankommt.
Wie möchten Sie einen solchen Praxistransfer denn stärker
fördern?
Holsboer:
Zum Beispiel mit unserem Instrument der „indivi-
duellen Lernbegleitung“. Das gibt es schon seit einigen Jahren
bei der BA, wir haben dem Ansatz nun aber neuen Schwung
verliehen. Aktuell haben wir 500 Lernbegleiter: Das sind Be-
schäftigte, die eine methodische Zusatzausbildung haben und
ihren Kollegen bei einem Lernziel helfen – und zwar nicht als
Fachexperten. Das ist eine Art Lerncoaching. Wenn beispiels-
weise jemand über ein Onlinetool eine Qualifizierung durch-
läuft, sitzt er oder sie für gewöhnlich recht einsam am Compu-
ter. Mit einem Lernbegleiter hat man jemanden, mit dem man
regelmäßig die Lernfortschritte reflektieren kann. Das schafft
zusätzliche Lernmotivation. Jeder Beschäftigte kann eine Lern-
begleitung in Anspruch nehmen oder sich zum Lernbegleiter
ausbilden lassen. Wichtig ist die absolute Freiwilligkeit: Nie-
mand darf dazu verdonnert werden. Denn es soll ja der Funke
vom Lernbegleiter zum Kollegen überspringen.
500 Lernbegleiter bei 95.000 Mitarbeitern, reicht das aus?
Holsboer:
Jeder Lernbegleiter kann mehrere Coachees haben.
Die Frequenz der Treffen ist dabei sehr unterschiedlich – zum
Beispiel 30 Minuten pro Woche oder auch nur einmalig eine
Stunde. Die Lernbegleiter können bis zu 50 Prozent ihrer Ar-
beitszeit darauf verwenden, je nach Nachfrage. Aber es soll
auch nicht so sein, dass jetzt jeder Beschäftigte den ganzen
Tag einen anderen auf dem Schoß sitzen hat. Wir werden viel-
leicht in Zukunft noch ein paar Lernbegleiter mehr haben, aber
wir brauchen keine Eins-zu-Eins-Spiegelung der Belegschaft.
Leider wird das Instrument bisher nicht genug in Anspruch
genommen – und zwar nicht nur, weil die Beschäftigten noch
nichts davon gehört haben. Was uns am meisten am lebens-
langen Lernen hindert, ist die Defizitorientierung: das Denken,
jemand bringt es gerade nicht im Job und muss deswegen in
eine Schulung. Das macht Angst, dass einen womöglich das
Qualifizierungspendel trifft.
Wie gehen Sie mit dieser Defizitorientierung um?
Holsboer:
Es ist kein Manko, wenn jemand eine Lernbeglei-
tung anfragt, sondern echte Stärke. Wer privat einen Personal
Trainer für die eigene Fitness hat, wird ja auch nicht schief
angeschaut, sondern es heißt eher, „Bow, wie modern!“. Beim
Thema Lernen ist man da aber immer noch verschämt. Wir
möchten lebenslanges Lernen komplett „entschämen“ und
Lust darauf machen. Wenn wir das nicht selbst mit voller
Überzeugung leben, wie wollen wir dann unsere Kunden für
Weiterbildung begeistern? Wir brauchen eine neue kulturelle
Akzeptanz. Das muss ganz oben beim Vorstand beginnen und
sich über die Führungskräfte bis zu den Mitarbeitenden wie ein
Lauffeuer ausbreiten. Wir haben Mitte Januar alle Lernbeglei-
ter und interessierte Unternehmen in einen großen Kinosaal in
Hannover eingeladen. Durch die Veranstaltung konnten alle
sehen, Donnerwetter, das ist etwas wirklich Wichtiges, was die
Lernbegleiter machen. Diese Energie war enorm. Viele Lernbe-
gleiter fragten aber nach, wie sie den Ansatz noch besser ver-
mitteln könnten. Einige haben berichtet, dass Führungskräfte
gerne zu den Mitarbeitern sagen, „wenn einer von Euch sowas
braucht, dann gerne. Ich brauche das natürlich nicht“. Das ist
die falsche Botschaft. Jede Führungskraft sollte das zumindest
mal probieren, um aus persönlicher Erfahrung berichten zu
können.
Sie haben jetzt auch selbst eine Lernbegleitung?
Holsboer:
Ja genau. Ich hatte zunächst probeweise eine Lern-
begleitungsstunde. Das war mit einer Mitarbeiterin von uns,
die mich wirklich angezündet hat. Deshalb bin ich dabeige­
blieben. Wir treffen uns alle sechs Wochen für eine Stunde. Ich
habe mir ein freies Lernziel gesetzt, das vertraulich ist, also nur
zwischen meiner Lernbegleiterin und mir. Absolute
Vertraulichkeit ist das A und O und auch die Che-
mie muss stimmen.
Hat Sie auch jemand gefragt, warum Sie das nötig
haben?
Holsboer:
Das hat sich keiner getraut zu fragen,
aber vielleicht gedacht. Mir ist die Botschaft wichtig: Niemand
ist perfekt und hat ausgelernt, auch nicht ganz oben im Top-
management. Wenn wir über die Zukunft der Arbeit sprechen,
geht es immer auch um eine neue Art der Führung – weg von
autoritärer Führung hin zu einer stärkeren Mitarbeiterorientie-
rung. Dazu gehört, dass wir keine Helden feiern. Vertrauen ist
wichtiger als das Kommando des Chefs. Die Gefahr ist sonst,
dass keiner sich traut, dem Vorstand zu sagen, was wirklich
Sache ist. Das ist eine echte Kulturveränderung und für mich
auch Risikomanagement.
Es geht also Ihrer Meinung nach bei der Qualifizierung für die
Digitalisierung mehr um eine neue Haltung als um
„Weiterbildung ist kein Luxus, den man sich
einmal gönnt, wenn alles andere schon
gemacht ist.“
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