Wirtschaft und Weiterbildung 5/2019 - page 12

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wirtschaft + weiterbildung
05_2019
Selbstorganisation bedeutet, dass biologische,
psychische und soziale Systeme selbst Kommunika­
tionsstrukturen bilden. Niemand gibt diese vor. Das
System erfindet sie selbst! So ist beispielsweise
jede Organisation, jedes Team, jeder Workshop eine
Mischung aus Fremdorganisation und Selbstorga­
nisation. Der Rahmen für das Miteinander wird von
außen vorgegeben (formelle Organisation) und der
konkrete Ablauf wird von den Anwesenden selbst
organisiert (informelle Organisation). Beides ist für
das Funktionieren einer Kooperation unverzichtbar.
Wenn heute – etwa im Rahmen von New Work –
viel von Selbstorganisation die Rede ist, dann ist
damit meist gemeint, dass es für die Agilität einer
Organisation insgesamt wesentlich sei, unter den
Beteiligten eine Kommunikation auf Augenhöhe
anzustreben und die Freiheitsgrade innerhalb des
vordefinierten Rahmens möglichst groß zu halten …
und vielleicht sogar zuzulassen, dass der Rahmen
selbst diskutiert und modifiziert werden kann.
Allzu leicht wird dabei übersehen, dass eine Gruppe
oder ein Team nur bei entsprechender „Reife“ eine
Chance hat, selbstorganisiert zu arbeiten. Je reifer
die Gruppe ist, also je geübter die Menschen in Dis­
kussion und Moderation sind, desto mehr ist mög­
lich. Ohne entsprechendes Training wird Selbstor­
ganisation sehr schnell zur Überforderung: Was gut
gemeint war, geht nicht gut aus. Missverständnisse
und mehr oder weniger offen ausgetragene Kon­
flikte sind die Folge. Das bedeutet steigenden Frust,
steigende Fluktuation. Unterstellt man, dass – vor
allem die jüngere Generation – sich ganz im Sinne
des berühmten Psychologen Erich Fromm „weg vom
Schein und hin zum Sein“ entwickelt (Mitgestaltung
geht vor Status), dann wird deutlich, dass es nicht
darum gehen kann die Menschen enger zu führen,
also mehr fremdzuorganisieren. Vielmehr wird die
Dringlichkeit einer Qualifikation in Kommunikation
und Moderation deutlich.
Eine abteilungs- und immer häufiger auch eine
unternehmensübergreifende, agile Projektarbeit
zwingt Führungspersonen und Mitarbeiter dazu,
Führen und Geführt werden neu zu definieren. Es
kann im New-Work-Zeitalter also nicht um ein Fest­
halten an alten Führungsvorstellungen gehen, es
hilft aber auch nicht, ins Gegenteil zu verfallen und
die Menschen mit Anforderungen zur Selbstorgani­
sation zu konfrontieren, denen sie nicht gewachsen
sind. Es wäre fatal, im menschlichen Bereich auf
Effekte wie „Schwarmintelligenz“ zu setzen. Glaubt
man Dirk Helbing von der ETH Zürich, dann sind
dies Schwarmeffekte vom Tierreich auf mensch­
liche, soziale Systeme überhaupt nicht übertragbar.
Auch scheint es naiv, darauf zu vertrauen, dass sich
bei der Teamarbeit das inhaltlich bessere Argument
durchsetzen werde. Gut möglich, dass sich eher
extrovertierte, rhetorisch geschickte, vielleicht auch
ein Stück weit rücksichtslose Teilnehmer,
die sich „gut verkaufen“ können, mehr
Gehör verschaffen.
Allein moderatorisches Geschick kann
helfen, diese Effekte zu eliminieren oder
zumindest zu minimieren. Die Förderung
sozialer und methodischer Kompetenz in Kommu­
nikation und Moderation, Coaching und Führung,
scheint der Königsweg zu sein, Selbstorganisation
zu ermöglichen. Vielleicht gilt es, den von Paul
Hersey und Ken Blanchard in den 70er-Jahren for­
mulierten Ansatz der „situativen Führung“ neu zu
beleben. Führungskräfte und Projektleiter sollten
dazu qualifiziert werden, dass sie ihren Mitarbeitern
gute Coachs für Selbstorganisation sein können.
Gastkommentar
Vom Chef zum Selbst-
organisations-Coach
New Work macht die Dringlichkeit
einer Qualifikation in Sachen
Moderation deutlich.
Josef W. Seifert
Foto: Moderatio
Josef W. Seifert gründete im Jahr 1987 das Institut „Moderatio“ im bayerischen Pörnbach, das sich auf die Vermittlung der Moderationsmethode im
Businesskontext spezialisierte. Seifert wurde bekannt für sein Prozessmodell des „Moderationszyklus“.
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