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wirtschaft + weiterbildung
09_2018
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regionalen Veranstaltungen besucht und
sehr viele Hände geschüttelt. Seinem
Wahlkampfteam beteuert er, dass man
ihn im Wahlkreis sehr gut kenne und
er sich nun anderen Themen widmen
könne. Er möchte mehr inhaltlich arbei-
ten und nicht jeden Abend unterwegs
sein müssen. Sein erfahrenes Team ver-
sucht ihm den Filterblick bezüglich der
eigenen Bekanntheit zu nehmen und mit
den Konsequenzen seines Rückzugs zu
konfrontieren – was bei ihm sofort star-
ken Widerstand auslöst.
2.
Gefühle der Minderwertigkeit
bearbeiten
Martin Maier ist über die Liste in das Eu-
ropaparlament gewählt worden. In sei-
nem Fachgebiet ist er kompetent und in
seiner Heimat auch erfolgreich. Unglück-
lich ist er über einen unvermeidbaren
Umzug nach Brüssel – zumal seine Fami-
lie in der Heimat bleibt und er nur wenig
Englisch spricht. Ihm werden Übersetzer
zur Seite gestellt. In Brüssel kommt er
jedoch täglich mit seinen Minderwertig-
keitsgefühlen in Berührung. Er fühlt sich
den Anforderungen nicht gewachsen. Der
innere Konflikt frisst ihn auf. Er überlegt,
sich aus Brüssel zurückzuziehen, kann
aber mit den Konsequenzen momentan
noch nicht gut leben.
3.
Stärke zeigen ist nicht einfach
Hans Huber wirft seinen Hut in den Ring.
Der studierte Architekt möchte sich noch
mehr für die Stadt, in der er wohnt, ein-
setzen und ein offizielles Amt bekleiden.
Sein empfindsames Gespür macht ihn zu
einem guten Zuhörer und authentischem
Gegenüber. Er ist smart und in der Sache
präzise, was auf große Zustimmung bei
den Wählern stößt. Je erfolgreicher er
beim Stimmenfang im Wahlkreis wird,
desto mehr wird er von Parteifreunden
und erst recht von seinen Gegnern trick-
reich bekämpft. Vermehrt greift er zu Al-
kohol, um sein Nervensystem zu stabili-
sieren und den Alltag durchzustehen.
4.
Aus der Wirtschaft in die Politik
Ein sehr erfolgreicher Manager aus dem
Wirtschaftsleben wird gebeten sein Fach-
wissen als Bundesminister in die natio-
nale Politik einzubringen. Während sich
der Neu-Politiker voller Tatendrang auf
die inhaltlichen Herausforderungen stürzt
und diese bearbeitet, wetzen im Hinter-
grund nicht nur politische Gegner bereits
mit großer Freude die Messer. Bevor er
überhaupt sein Konzept vollständig vor-
stellen kann, stolpert er medienwirksam
über den ersten politischen Stein, den
man ihm in den Weg legt.
5.
Wenn Haltung zum Starrsinn wird
Walter Weichert ist seit 30 Jahren Politi-
ker und wird nicht zuletzt wegen seiner
überlegen wirkenden Standfestigkeit und
dem eisernen Willen die Dinge durchzu-
setzen, gewählt und verehrt. Bereits als
junger Kommunalpolitiker eilte ihm der
Ruf „sich auch in schwierigen Situationen
nicht wegzuducken“ voraus. Durch ne-
gative Rückmeldungen ließ er sich nicht
beirren, verfolgte seinen Plan auch gegen
Widerstände so lange, bis er schlussend-
lich Erfolg hatte. Unreflektiert und harsch
im Umgang mit seiner eigenen Person
und der nächsten Umgebung feierte er Er-
folge und ignorierte die nötige Aufarbei-
tung von Misserfolgen beflissentlich. Es
kam der Tag und die Stunde, an dem eine
Problemstellung in der Bearbeitung mehr
Flexibilität, Feingefühl und Aufmerksam-
keit benötigt hätte.
Instinktiv meinte er eine mögliche Gefahr
zu wittern und schützte sich wie gelernt
mit vermeintlicher Haltung und regider
Härte. Er verfiel in bockiges Miteinander
und verstieg sich in der Kommunikation
mit der Öffentlichkeit. Ab einem gewissen
Punkt gab es kein zurück mehr. Im Ge-
gensatz zum starrsinnigen Verhalten, war
der Sachverhalt bei den Wählern schnell
vergessen und unwichtig. Die Rücktritts-
forderungen aller Seiten wurden lauter,
seine früheren Erfolge scheinbar verges-
sen. Weichert musste zurücktreten. Der
Rücktritt war bitter und wurde weder sei-
ner Person noch seinen früheren Erfolgen
gerecht.
Der politische Alltag
Diese Beispiele geben einen kleinen Ein-
blick in den politischen Alltag. Das Ge-
schilderte beschreibt menschliches Ver-
halten unter Druck, das den Charakter
inneren und äußeren Zwangs aufweist:
Widerstand, Stagnation, Suchtkompen-
sation, Kränkung und Scham. Raubbau
an Körper und Geist sind keine seltenen
Nebenerscheinungen nach jahrelangem
Politikerleben. Permanenter Terminstress,
tagtägliche Angriffe oder Kränkungen
und die Belastung, immer wieder falsch
interpretiert, zitiert und kommentiert
zu werden, hinterlassen Spuren in der
menschlichen Seele. Abschottung und
das Abspalten von inneren Gefühlen
sind im politischen Alltag zunächst hoch
wirksam und führen gleichzeitig aber
das Unheil mit sich, die eigenen Bedürf-
nisse und die Bedürfnisse der nächsten
Umgebung nicht mehr richtig wahrzu-
nehmen. Die Negativ-Spirale setzt sich
in Gang. Diese innere Verkapselung und
die äußere Abarbeitung gilt es als Coach
zu dechiffrieren und ins Bewusstsein der
Selbstwahrnehmung zurückzubringen.
Denn die Ergebnisse von Abspaltung und
Isolation beschädigen immer Amt, Person
sowie Umfeld und damit unsere Gesell-
schaft gleichermaßen. Voraussetzungen
für einen wirksamen Coaching-Prozess:
1.
Vertrauen
Der Coach eines Politikers ist die engste
Vertrauensperson mit höchster Vertrau-
lichkeitsstufe. Er erarbeitet mit dem Kli-
enten alle notwendigen Schritte, um un-
bewusste Stolpersteine zu verhindern.
Wichtig ist, ein Umfeld zu schaffen, auch
schwierige Aspekte der Persönlichkeit be-
sprechen zu können, ohne zu verurteilen.
Nach außen zu Schweigen, ist in jeder
Hinsicht Pflicht und gilt ein Leben lang.
Franziska
Dannecker-
Scharf
arbeitet als Per-
sönlichkeitsent-
wicklerin und Coach. Sie hat eine vom
DBVC zertifizierte Coaching-Ausbil-
dung und eine Ausbildung zum sys-
temtheoretischen Organisationsbera-
ter am „Hephaistos Coaching Zentrum
München“ in Krailling abgeschlossen.
Myconsultancy
Baaderstrasse 72, 80469 München
Tel. +49(0)89 41200388
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