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PERSONALquarterly 03/16
SCHWERPUNKT
_ENTGRENZTES ARBEITEN
D
erWandel derArbeitswelt stelltArbeitnehmer vorneue
Anforderungen. Veränderte Formen der Arbeitsorga-
nisation wie Teamstrukturen und flache Hierarchien
erfordern ein erhöhtes Ausmaß an Eigenverantwor-
tung und Selbstorganisation. Neue Unternehmensziele und
-strategien verlangen ein dienstleistungsorientiertes Verhalten.
Zugleich wird von den Arbeitnehmern erwartet, dass sie in fle-
xibler Weise auf technologische Innovationen reagieren, um
dem zunehmenden Wettbewerb zu begegnen.
Diese Anforderungen lassen sich mit starren Verhaltens-
routinen nicht bewältigen. Ihre Bewältigung setzt vielmehr
eine Selbstkontrolle des eigenen Verhaltens voraus: Eigen-
verantwortliches, leistungs- und kundenorientiertes Arbeiten
erfordert, dass das eigene Verhalten immer wieder neu auf
Unternehmenserfordernisse und Kundenwünsche ausgerich-
tet wird. Konkurrierende impulsive oder gewohnheitsmäßige
Verhaltenstendenzen müssen dagegen unterdrückt werden
(Neubach/Schmidt, 2007).
In der arbeits- und organisationspsychologischen Forschung
finden Anforderungen an die Selbstkontrolle zunehmend Auf-
merksamkeit. Um sie einer Messung zugänglich zu machen,
haben Neubach und Schmidt (2007) ein Fragebogeninstrument
entwickelt, das drei Formen arbeitsbezogener Selbstkont
rollanforderungen abbildet.
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Die Kontrolle spontaner, impulsiver Reaktionen und der hier-
mit verbundenen Emotionen, die sich beispielsweise in Ge-
reiztheit, Ungeduld oder unbedachten verbalen Äußerungen
ausdrücken (Impulskontrolle).
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Das Erfordernis, Ablenkungen zu ignorieren, die im Falle der
Beachtung die eigentliche Aufgabenbearbeitung unterbre-
chen würden (Ablenkungen widerstehen).
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Die Notwendigkeit, innere Blockaden zu überwinden, die zum
Beispiel aus mangelnder Motivation oder geringer Aufgaben-
attraktivität resultieren (Überwinden innerer Widerstände).
Psychische Kosten der Selbstkontrolle
Wenngleich diese Kontrollprozesse dazu dienen, das eigene
Verhalten zielgerichtet zu steuern, so hat ihr Einsatz jedoch
auch seinen Preis. Zahlreiche Befunde der psychologischen
Forschung zeigen, dass das Bewältigen von Selbstkontrollan-
Selbstkontrollanforderungen bei der Arbeit:
Kann Abschalten am Abend schützen?
Von
Lilian Gombert, Wladislaw Rivkin, PD Dr. Thomas Kleinsorge
und
Prof. Dr. Klaus-Helmut Schmidt
(Leibniz-Institut für Arbeits-
forschung an der TU Dortmund)
forderungen unmittelbar sowie langfristig die psychische Leis
tungsfähigkeit sowie die Gesundheit beeinträchtigen kann (für
einen Überblick siehe Schmidt/Diestel, 2015).
In ihrem Modell der begrenzten Willenskraft nehmen Mura-
ven und Baumeister (2000) an, dass unterschiedliche Prozesse
der Selbstkontrolle ein und dieselbe Ressource beanspru-
chen, deren Kapazität jedoch begrenzt ist und die bei ihrer
Inanspruchnahme (ähnlich wie ein Muskel) vorübergehend er-
schöpft. Der Zustand der Ressourcenerschöpfung sowie der da-
raus resultierenden eingeschränkten Leistungsfähigkeit wird
als „ego-depletion“ (Ich-Erschöpfung) bezeichnet. Nach kurzen
Erholungspausen kann sich die Ressource wieder regenerieren
und erneut für den Einsatz von Selbstkontrolle beansprucht
werden. Bleibt die Möglichkeit zur Regeneration jedoch aus,
können aus akuten Erschöpfungszuständen chronische Bean-
spruchungsfolgen sowie Defizite der Selbstkontrolle entstehen.
Diese Beobachtung hat in der psychologischen Forschung die
Untersuchung von Faktoren angeregt, die die Beanspruchungs-
wirkung von Selbstkontrollanforderungen abschwächen und auf
diese Weise Arbeitnehmer vor gesundheitlichen Folgen schüt-
zen können. Besondere Beachtung gilt hierbei neben Merkma-
len des Arbeitskontextes (z.B. Kontrollspielräume, Neubach/
Schmidt, 2006) auch Erholungsprozessen, da diese durch den
Arbeitnehmer selbst aktiv beeinflusst werden können.
Selbstkontrollanforderungen und Erholung:
Die Rolle mentalen Abschaltens am Abend
Die große Bedeutung von Erholung für die Gesundheit von Ar-
beitnehmernwurde bereits vielfach belegt. Das Effort-Recovery-
Modell (Meijman/Mulder, 1998), eines der zentralen Modelle
in der Erholungsforschung, beschreibt, dass die kurzfristigen
Auswirkungen von Stressreaktionen grundsätzlich reversibel
sind und Erholung einsetzt, sobald eine Person Stressoren
nicht mehr ausgesetzt ist. Menschliche Funktionssysteme keh-
ren in ihren Ausgangsstand zurück, beanspruchte Ressourcen
können wieder aufgefüllt und Wohlbefinden und Leistungsfä-
higkeit wiederhergestellt werden. Personen, die sich gut erho-
len, werden demnach weniger stark von Arbeitsbelastungen
beeinträchtigt. Bleibt die Erholung jedoch aus, kumulieren sich
Stressreaktionen zu chronischen Beeinträchtigungen.