Die Wohnungswirtschaft 5/2019 - page 32

STÄDTEBAU UND STADTENTWICKLUNG
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5|2019
Entwicklung in Zeiten veränderter Mobilität
Neue Wege bei der Stellplatzpflicht
Landauf, landab ist es aktuell in den größeren Städten ein Thema für Investoren und Planer: Wie viele
Kfz-Stellplätze sind im Verhältnis zur Anzahl der Wohnungen zu schaffen? Fast alle Bundesländer haben
auf ein verändertes Mobilitätsverhalten – das anhand einer verstärkten Nutzung von Carsharing und dem
wachsenden Verzicht auf private Pkw deutlich wird – reagiert und ihre Landesbauordnungen angepasst.
Die Verantwortung liegt bei den Kommunen, die individuelle Vorgaben festlegen können.
„Das ist genau der richtige Weg“, sagt dazu der
Verkehrsingenieur Eckhard Heinrichs, Geschäfts-
führer der Beratungsgesellschaft LK Argus. Das
Unternehmen hat sich auf Verkehrsplanung sowie
Verkehrs- und Mobilitätsuntersuchungen spezia-
lisiert und für die 2014 vomBundesbauministeri-
umeingerichtete Baukostensenkungskommission
eine bundesweite Studie zu Stellplatzsatzungen
erstellt. Mit der Übergabe der Verantwortung an
die Kommunen seien in vielen Orten „gute Lösun-
gen gefunden worden, die statt starrer Vorgaben
zukunftsfähige Ansätzemit großen Freiheiten er-
möglichen“. Auch das Ziel der Baukostensenkung
könne erreicht werden, da vor allem Stellplätze,
die unter der Erde geschaffenwerdenmüssen, ein
erheblicher Kostenfaktor seien.
Individuelle Lösungen statt „goldener Weg“
Schon die Studie, aber auch alle Erkenntnisse der
vergangenen Jahre bestätigen, dass der Verzicht
auf Stellplätze „tendenziell nur in Regionenmög-
lich ist, wo es einen gut ausgebauten ÖPNV gibt“,
sagt der Verkehrsingenieur. Bevor über neue kom-
munale Satzungsvorgaben nachgedacht und für
aktuelle Projekte Festlegungen getroffenwerden,
rät er, Verkehrsplaner mit einzubeziehen. Zum
einen, um die grundsätzlichen Möglichkeiten in
einer Kommune zu prüfen, zum anderen, um für
aktuelle Bauvorhaben und Erschließungen die bes-
te „und vor allem auch eine langfristig sinnvolle
Lösung zu finden“. Heinrichs: „Es gibt nicht einen
goldenenWeg. DieMobilitätsmuster der künftigen
Mieter sind von Projekt zu Projekt unterschiedlich,
ebenso wie die Rahmenbedingungen.“
Die neuenMöglichkeitenbei der Frage der Stellplät-
zewerdenbundesweit sehr unterschiedlichgenutzt.
Das reicht vom vollständigen Verzicht auf Vorga-
ben, z. B. in Hamburg, bis hin zu neuen Satzungen,
die bis ins kleinste Detail bürokratisch regeln, was
planerisch, organisatorisch und vertraglich – z.B.
mit Carsharing-Betreibern – festzulegen ist.
Hamburg: vier von fünf Stellplätzen
werden freiwillig gebaut
In Hamburg hat der Senat bereits 2014 einen
klaren Akzent gesetzt: Die Stellplatzpflicht im
Wohnungsbau wurde aufgehoben. Ziel war es, für
eine deutlich spürbare Senkung der Baukosten
und eine Entlastung bei den Baugenehmigungs-
verfahren zu sorgen. Der Verzicht auf starre Quo-
ten sollte Bauherren flexible, vorhabenbezogene
und ortsindividuelle Lösungen sowie das flexible
Reagieren auf verändertes Mobilitätsverhalten
ermöglichen.
Anfang 2018 wurde für diese richtungsweisende
Änderung erstmals eine Evaluierung vorgenom-
men. Mit eindeutigen Ergebnissen, die sich nach
Aussage der Pressesprecherin der Behörde für
Stadtentwicklung und Wohnen, bis heute bestä-
tigen. Barbara Ketelhut: „Die Evaluierung ergab,
dass über 80% der Stellplätze freiwillig gebaut
werden, die vor der Gesetzesänderung notwendig
gewesenwären.“ Eine Abfrage innerhalb der Woh-
nungswirtschaft sei zu einem ähnlichen Ergebnis
gekommen (siehe S. 24-29 in dieser DW).
In der evaluierenden Studie wird festgestellt, dass
die Notwendigkeit zum Bau von Stellplätzen von
Seiten der Bauherren weiterhin unbestritten ist.
„Die Bauherren nehmen ihre Eigenverantwortung
wahr und realisieren bedarfsgerecht Stellplät-
ze.“ Auf den Bau unwirtschaftlicher Stellplätze
würde verzichtet. Damit würden in Hamburg
jährlich geschätzte Investitionskosten zwischen
5,4 Mio. € (bei ebenerdigen Stellplätzen) bis zu
maximal 26,95 Mio. € (für Tiefgaragenstellplät-
ze) wegfallen. Ketelhut: „Die Abschaffung der
Herstellungspflicht führt somit zu einer Senkung
der Baukosten.“ Inwieweit diese sich auf die Ent-
wicklung der Immobilienpreise auswirke, sei nicht
bekannt. Das Fazit fällt nach fünf Jahren Verzicht
auf die Stellplatzpflicht analog zu den Ergebnissen
der Studie eindeutig aus: „Der Wegfall des gesetz-
lichen Zwangs ist eine wirksame Maßnahme zur
Erleichterung von Wohnungsbauvorhaben“, so
Ketelhut.
Vielfältige Maßnahmen in Tübingen
In Tübingen ist die Anpassung der Stellplatzver-
ordnung ein Bestandteil der Klimaschutzinitia-
tive „Tübingen macht blau“. Seit 2010 wurden
zahlreiche Aktivitäten entwickelt, um durch ein
verändertes Mobilitätsverhalten der Bürger z.B.
den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren.
Seit Ende 2016 gelten neue Stellplatzvorgaben.
Dafür entwickelte die Stadt umfassende Krite-
rien, die eine Reduzierung der vorzuhaltenden
Stellplatzzahl je Wohnung für Investoren und
Immobilieneigentümer von 1,0 auf bis zu 0,6
ermöglichen. Dieses Ziel ist aus Sicht der Stadt
auch sozial wichtig, um in einer Stadt mit stark
steigenden Mieten die Kosten imWohnungsneu-
bau zu reduzieren.
Ausschlaggebend bei der neuen Satzung war eine
umfassende Analyse des Mobilitätsverhaltens der
Bürger in der durch eine hohe Zahl an Studieren-
den geprägten Stadt. Für einzelne Stadtteile wur-
den die Durchschnittswerte an Pkwpro Einwohner
THEMA DES MONATS
Holger Hartwig
Agentur Hartwig3c
Hamburg/Papenburg
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