DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 1/2019 - page 52

MARKT UND MANAGEMENT
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Staatsverschuldung zu senken. Der französische
Staatspräsident, Emmanuel Macron, sprach in
diesem Zusammenhang von der „Ausgabe einer
irrsinnigen Geldsumme, mit welchemErgebnis?“.
Mit dieser drastischen Formulierung rechtfertigte
er die Notwendigkeit, das derzeitige System und
seine Finanzierung auf den Prüfstand zu stellen.
Änderungen von Haushalt und Gesetzeslage
Tatsächlich wurden 2018 neue Haushaltsre-
geln verabschiedet und für 2019 bestätigt, die
die Finanzierungsmodalitäten erheblich ändern
werden. Außerdem hat das Parlament ein neues
Wohnungsbaugesetz verabschiedet.
Diese neuen Bestimmungen ändern zwar nicht die
historischen Grundlagen des französischen Mo-
dells des sozialen Wohnungsbaus, sie stellen sie
auch nicht in Frage – aber sie zwingen private und
öffentliche Akteure zu einem radikalen Umdenken
in Bezug auf ihre Betriebsweisen und Finanzie-
rungsquellen. Die ersten Richtungswechsel wur-
den bei der Haushaltsdebatte 2018 imParlament
vorgenommen:
• Einführung einer sog. Réduction de Loyer de
Solidarité (RLS) (solidarische Mietminderung)
mit dem Ziel, eine Verringerung von Sozialleis-
tungen um 45 € pro Monat für bedürftige Mie-
ter durch eine Absenkung ihrer Monatsmiete
um den gleichen Betrag auszugleichen. Für die
betroffenen Mieter ist die Senkung dieser Sozi-
alleistung somit neutral. Für den Staat bedeu-
tet sie 800 Mio. € Einsparungen im Jahr 2018,
837 Mio. € Einsparungen 2019 und ab 2020
1,5 Mrd. €. Für die sozialen Wohnungsbauge-
sellschaften bedeutet dies einen Einnahmever-
lust von 4% im Jahr 2019 und von 7,5% im Jahr
2020. Diese Mietminderung betrifft jedoch nur
den Sozialwohnungssektor; der Privatsektor ist
hiervon ausgenommen.
• Erhöhung des reduziertenMehrwertsteuersat-
zes von 5,5% auf 10%, was für die Wohnungs-
unternehmen einer jährlichen Mehrbelastung
von 700 Mio. € entspricht.
• Einfrieren der Mieten im Jahr 2018, mit ei-
ner möglichen Verlängerung. Der Verlust
an Mieteinnahmen wird für das Jahr 2018
auf 150 Mio. € geschätzt und soll 2020 auf
180 Mio. € steigen.
• Ein geschätzter Anstieg um350Mio. € der Bei-
träge, die soziale Wohnungsunternehmen zur
Finanzierung von Baubeihilfen zahlen, um den
Rückzug des Staates auszugleichen.
• Und schließlich wird die Berechnung des Zins-
satzes des Sparbuchs Livret A, der eine aus-
gewogene Mischung zwischen den Interessen
der Sparer und denen der Kreditnehmer, d.h.
der sozialen Wohnungsbaugesellschaften, ist,
geändert, um ihn den kurzfristigen Zinssätzen
des Bankensektors anzunähern.
Damit die Wohnungsunternehmen weiterhin
investieren können, wurden im Gegenzug be-
stimmte Entschädigungen von der Regierung
eingerichtet, welche auf rund 1 Mrd. € geschätzt
werden. Aber diese betreffen im Wesentlichen
Verlängerungen von ausstehenden Schulden und
neue subventionierte Kredite des staatlichen Fi-
nanzinstituts „Caisse des Dépôts“. Financial Engi-
neering, das kurzfristig sicherlich nützlich ist, aber
die Auswirkungen des Totalausfalls der staatlichen
Zuschüsse und des Rückgangs der Mieteinnahmen
langfristig nicht kompensieren wird.
In der Folge von Initiativen großer Unternehmen während der industriellen Revolution wurde
per Gesetz vom 30. November 1894 die „Société française des Habitations à Bon Marché“
(Französische Gesellschaft für preiswerten Wohnraum) gegründet; 1945 wurde dann der heute
noch in Frankreich zur Beschreibung des sozialen Wohnungsbaus verwendete Begriff Habita-
tions à Loyer Modérés (HLM) geprägt. Ziel war es, einkommensschwachen Arbeiterfamilien
ein Zuhause zu bieten, in dem sie unter menschenwürdigen hygienischen Bedingungen leben
können. Für die Unterbringung von mittel- oder obdachlosen Menschen gab es bereits damals
eigene Organisationen.
GESCHICHTE DES SOZIALEN WOHNUNGSBAUS IN FRANKREICH
Etwa 18% des französischen Wohnungsbestandes entfallen auf
Sozialwohnungen wie diese in der Avenue de France in Paris
1...,42,43,44,45,46,47,48,49,50,51 53,54,55,56,57,58,59,60,61,62,...76
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