DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 1/2019 - page 51

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Wohnungsbaus (siehe Kasten auf dieser Sei-
te) als Schlüsselfaktor für die soziale Mischung
und die Raumplanung erwiesen. Mit fast 5 Mio.
Wohneinheiten beherbergen sozial orientierte
Wohnungsunternehmen 11 Mio. Mieter – 17%
der Bevölkerung. Gemeinsam sind sie ein wich-
tiger Wirtschaftsakteur, der jedes Jahr mehr als
17Mrd. € in den Neu- und Umbau seines Bestands
investiert.
Es ist ein effizientes System – solange Wirt-
schaftstätigkeit und Beschäftigung boomen. Ist
wenigWachstumvorhanden, und nimmt Unsicher-
heit zu, wird es teuer für die öffentliche Hand.
Im Jahr 2017 erhielten die sozial orientierten
Wohnungsunternehmen mehr als 8 Mrd. € an
staatlichenMitteln, umdieMieter bei der Zahlung
der Mieten zu unterstützen. Weitere 9,7 Mrd. €
stammten aus verschiedenen Arten öffentlicher
Zuschüsse zur Förderung ihrer Tätigkeiten. Den-
noch lebten gleichzeitig über 3Mio. Menschen auf
der Straße oder unter ungünstigen Bedingungen.
Mehr als 2Mio. Bewerber warten aktuell noch im-
mer auf eine Sozialwohnung, über 200.000 davon
alleine in Paris.
Natürlich ist die Abwägung zwischen diesen Zah-
len ein Anlass zur Sorge, ganz besonders im Zu-
sammenhang mit dem erklärten Wunsch, die
Quelle der Fotos: Paris Habitat
In den 124 Jahren seines Bestehens haben sich fünf Grundpfeiler des sog. französischen
Modells des sozialen Wohnungsbaus entwickelt:
1. Lokale Akteure
Der französische soziale Wohnungsbau basiert auf einem diversifizierten Netz von 694
sozialen Wohnungsunternehmen, davon 253 öffentliche, 220 private, 165 Genossen-
schaften sowie 56 der sog. „Accession sociale à la propriété“ (Gesellschaft zur sozialen
Förderung des Erwerbs von Wohneigentum). Alle sind gemeinnützig. Ihre erzielten Gewinne
müssen wieder in soziale Maßnahmen investiert werden. Die öffentlichen sozialen Woh-
nungsbaugesellschaften sind an eine sog. Gebietskörperschaft angegliedert (z.B. eine Stadt
oder ein Département).
Die Privatunternehmen haben Aktionäre, an die sie eine – begrenzte und geringe – Divi-
dende auszahlen können. De facto befindet sich die große Mehrheit der privaten sozialen
Wohnungsbaugesellschaften zunehmend in den Händen einer einzigen Aktionärin: „Action
Logement“, eine Organisation, die 0,45% der Lohnkosten einzieht, die jedes Unternehmen
zur Unterstützung des sozialen Wohnungsbaus an sie zahlt. Und schließlich unterliegen alle
Wohnungsbaugesellschaften bei Auftragsvergabe dem Kodex der öffentlichen Ausschrei-
bung.
2. Generalistischer Charakter
In Frankreich wie in Deutschland ist der soziale Wohnungsbau nicht nur für die Bedürftigs-
ten bestimmt. Er soll vielmehr ein generalistisches Instrument zur Förderung der sozialen
Mischung sein und verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammenbringen, von den pre-
kärsten bis zur Mittelschicht. Das Prinzip besteht darin, drei Wohnkategorien anzubieten,
deren Miete (von 5 bis 12 €/m
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pro Monat) in Abhängigkeit einer bestimmten Einkommens-
obergrenze festgelegt wird (von 30.000 € bis 70.000 € pro Jahr für eine Familie mit zwei
Erwachsenen und zwei Kindern). De facto bleibt der soziale Charakter jedoch vorherr-
schend, da 60% der Mieter über ein Einkommen von weniger als 60% der Obergrenze jeder
Kategorie verfügen. 35% leben sogar unterhalb der Armutsgrenze (1.026 € pro Monat).
3. Finanzierung durch nationale Ersparnisse
Das zweite Merkmal ist die Finanzierung durch die Ersparnisse der Bevölkerung. Alle Banken
bieten zwei von den Franzosen sehr geschätzte Sparkonten an (das sog. Livret A und das
sog. LDD), deren Erfassung zentral durch ein staatliches Finanzinstitut erfolgt: die Caisse
des Dépôts et Consignations. Auf diese Weise werden über 350 Mrd. € zur Finanzierung gro-
ßer nationaler und regionaler Infrastrukturen sowie des sozialen Wohnungsbaus verwendet,
durch langfristige Darlehen, mit einer Laufzeit von 40 bis 50 Jahren, zu einem ermäßigten
Zinssatz. Diese Darlehen garantieren 50 bis 60% der Finanzierung der Baukosten.
4. Staatliche Kontrolle
Die sozialen Wohnungsunternehmen erfüllen einen öffentlich-rechtlichen Auftrag und
profitieren hierfür von staatlichen Zuschüssen, Steuerbefreiungen sowie einem reduzierten
Mehrwertsteuersatz. Sie unterliegen der Kontrolle ihrer Tätigkeit und Verwaltung durch
die öffentliche Hand. Diese wird alternativ von einer interministeriellen öffentlichen Stelle,
einer unabhängigen Justizbehörde, dem Regionalen Rechnungshof und den für jedes be-
troffene Ministerium spezifischen Kontrollbehörden ausgeübt.
5. Territorialer Zusammenhalt
Darüber hinaus ist der soziale Wohnungsbausektor ein wichtiger Akteur bei der Entwick-
lung städtischer wie ländlicher Räume und trägt damit zum nationalen Zusammenhalt bei.
Eine soziale Wohnungsbaugesellschaft ist auch stadtplanerisch tätig und kann öffentliche
Einrichtungen (z.B. Schulen) bauen. Seit Kurzem ist gesetzlich vorgeschrieben, dass in
Kommunen mit mehr als 1.500 bis 3.000 Einwohnern, je nach geografischer Zone, bis 2025
mindestens 25% der Wohnungen Sozialwohnungen sein müssen.
DIE FÜNF MERKMALE DES FRANZÖSISCHEN MODELLS
1...,41,42,43,44,45,46,47,48,49,50 52,53,54,55,56,57,58,59,60,61,...76
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