DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 4/2017 - page 66

MARKT UND MANAGEMENT
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4|2017
Angesichts dieser Zahlen setzt ein Umdenken der
betroffenen Angehörigen ein. Die Familienfreund-
lichkeit eines Arbeitgebers wird jetzt nicht mehr
nur daran gemessen, wie großzügig die Angebo-
te bei Elternzeit, flexibler Arbeitsgestaltung und
Home Office während der Kindererziehung aus-
gelegt sind, sondern auch an den Möglichkeiten,
das Gesetz zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf
vom 1. Januar 2015 in Anspruch zu nehmen. Die
Unternehmen allerdings sind noch längst nicht alle
darauf eingestellt. Nur 35%der Betriebe bieten eine
adäquate Leistung für die häusliche Versorgung
naher Angehöriger überhaupt an, lediglich rund
24% gewähren Auszeiten, die über das gesetzlich
Vorgeschriebene hinausgehen.
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig
erkennt dennoch einen Trend zum Besseren, im
Vorwort zum „Unternehmensmonitor Familien-
freundlichkeit 2016“ schreibt sie: „Die Unterneh-
men haben verstanden, dass familienfreundliche
Angebote entscheidende Kriterien bei der Arbeit-
geberwahl sind. Sie können damit wertvolle Fach-
kräfte für sich gewinnen und an sich binden.“
Als bislang einzigeGesellschaft derWohnungswirt-
schaft setzt dieUnternehmensgruppeNassauische
Heimstätte/Wohnstadt auf den Trend zur kinder-
und pflegefreundlichen Firma. Bereits seit 2013
unterzieht sich die größte hessischeWohnungsge-
sellschaft einer Zertifizierung als familienfreund-
licher Arbeitgeber. Darüber hinaus unterzeichnete
der leitende Geschäftsführer, Dr. Thomas Hain, im
November 2016gemeinsammitweiteren134Un-
ternehmen die hessische „Charta zur Vereinbarkeit
von Beruf und Pflege“.
DenUnterzeichnern – u. a. dieDeutsche Lufthansa,
der Deutsche Wetterdienst, Merck, Sanofi Aventis
und die Norma Group – geht es darum, tragfähige
Lösungen zu entwickeln, die sowohl den Anforde-
rungen der Arbeitgeber als auch den Belangen der
Pflegenden und nicht zuletzt der Pflegebedurftigen
Rechnung tragen. Insbesondere wollen die Unter-
nehmen „ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem die
Versorgung von Angehörigen kein Tabu ist“ und
„eineOrganisationskultur fördern, die vonRespekt
undWertschätzung fur dieÜbernahme der Verant-
wortung fur kranke Angehörige geprägt ist“.
Darüber hinaus sieht die vom Hessischen Sozial-
und Integrationsministerium, der AOK in Hessen,
der berufundfamilie Service GmbH und dem Bil-
dungswerk der HessischenWirtschaft e. V. initiier-
te Charta vor, dass im Betrieb alle Beschäftigten,
insbesondere solchemit Fuhrungsaufgaben, diese
Werte erkennen, teilen und leben. Dies soll beson-
ders durch lösungsorientierten Umgang mit den
Situationen der pflegenden Angestellten, einen
verbesserten Informationsstand uber die gesetz-
lichen Rahmenbedingungen sowie einen inner-
betrieblichen Dialog zu den Aktivitäten zur Ver-
einbarkeit von Beruf und Pflege erreicht werden
(siehe Kasten). Erste Schritte hin zur Umsetzung
dieser Ziele hat die Nassauische Heimstätte bereits
unternommen. „Für mich persönlich“, betont Dr.
Thomas Hain anlässlich der Unterzeichnung der
Charta, „war die Flexibilisierung der Arbeitszeit,
angelehnt an den demografischen Wandel, ein
wichtiger Meilenstein unserer an gesellschaftli-
chen Bedürfnissen orientierten Unternehmens-
führung.“
Spannungsfeld zwischen betrieblichen
Zielen und Familienfreundlichkeit
Gleichwohl ist die Unterzeichnung der Charta nur
ein erster Schritt. Der Unternehmensreport Fami-
lienfreundlichkeit 2016 listet akribisch den Hand-
lungsbedarf auf. Die Maßnahmen, so steht dort im
Fazit, könnten sich nur dann voll entfalten, wenn
sich „die personalpolitischen Leitlinien und die ge-
wünschte Unternehmenskultur auch im betrieb-
lichen Alltag widerspiegeln“. Eine zentrale Rolle
spielen dabei die Führungskräfte. Wenn sie ihre
Mitarbeiter darin bestärken, Pflegeaufgabenwahr-
zunehmen, wenn sie gar selbst Auszeiten nehmen
oder beim Arbeitszeitkontingent zurückstecken,
empfindenAngestellte dieUnternehmenskultur als
familienfreundlich. „Wichtig ist, dass Führungs-
kräfte das vorleben, was in den Leitlinien steht“,
weiß Peter Schirra, Personalleiter der Unterneh-
mensgruppe Nassauische Heimstätte/Wohnstadt.
Der Unternehmensreport sieht hier eines der größ-
ten Hindernisse auf dem Weg zur Vereinbarkeit
von Pflege und Beruf: Wenn Manager kurzfristige
Unternehmensziele priorisieren, gerate familienbe-
wusstes Führen schnell ins Hintertreffen.
Die Pflege naher Angehöriger
nimmt viel Zeit und Energien
in Anspruch. Für Berufstätige
stellt dies nicht selten ein
Problem dar – es sei denn, der
Arbeitgeber zeigt Verständnis
Quelle: YAKOBCHUK VIACHESLAV/shutterstock.com
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