DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 4/2017 - page 60

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4|2017
MARKT UND MANAGEMENT
Interview mit Prof. Dr. Theresia Theurl
„Genossenschaften wirken sympathisch
und besonders, da sie Herausforderun-
gen selbst in die Hand nehmen“
800 Mio. Genossenschaftsmitglieder gibt es weltweit in über 100 Ländern; mehr als 20 Mio. Mitglieder leben
in Deutschland. Rund 2.000 Wohnungsgenossenschaften gibt es hier. Die Professorin für Volkswirtschafts-
lehre und geschäftsführende Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen an der Westfälischen Wilhelms-
Universität Münster, Prof. Dr. Theresia Theurl, erklärt, warum es so bedeutsam ist, dass die Genossenschafts-
idee in die repräsentative Liste der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe aufgenommen wurde.
Quelle: privat
Frau Prof. Dr. Theurl, „Wir sind Weltkultur-
erbe“ lautet ein fröhlicher Slogan der Woh-
nungsgenossenschaften. Wer ist „wir“ und
was hat das einzelne Mitglied mit der Aufnah-
me ins immaterielle Weltkulturerbe zu tun?
Das einzelne Mitglied ist die Grundlage für diese
Auszeichnung des Genossenschaftsgedankens
als immaterielles Kulturerbe, denn die Mitglie-
der bilden das Fundament jeder Genossenschaft.
Durch ihre Entscheidung, eine Genossenschaft zu
gründen oder ihr beizutreten, übernehmen sie auf
besondere Weise Verantwortung für ihr eigenes
Wohlergehen. Sie delegieren es nicht auf andere.
Durch die Auszeichnung wird anerkannt, dass die
gemeinsame Übernahme von Verantwortung ein
wesentlicher Aspekt der Menschheitskultur ist.
Menschheit, das ist eine sehr abstrakte Grö-
ße. Gibt es überhaupt ein umfassendes Wir-
Gefühl bei den Genossenschaftsmitgliedern?
Sind Wohnungsgenossenschaften im Vorteil,
weil Wohnen so ein konkretes Gut ist?
Das Wir-Gefühl der Mitglieder in den einzelnen
Genossenschaften ist sicherlich unterschiedlich
ausgeprägt. Es hängt davon ab, welche Mitglie-
derstrategie die einzelne Genossenschaft verfolgt
und wie sie versucht, einen „Member Value“ für
die Mitglieder zu erzeugen. Die Wohnungsgenos-
senschaften scheinenmir hier tatsächlich eine be-
sondere Rolle zu übernehmen. Begünstigt durch
die räumliche Nähe der Mitglieder imQuartier, die
physisch greifbaren und sichtbaren Gebäude und
die Langfristigkeit der Wohnbeziehung kann sich
hier leichter und stärker ein Gemeinschaftsgefühl
herausbilden. Wenn die Bereitschaft dazu besteht.
Aufgenommen wurde die Genossenschafts-
idee u. a. deshalb, weil sie eine über 150
Jahre alte Tradition darstellt. Halten Sie die
Prinzipien der Selbsthilfe und Selbstverant-
wortung, um nur zwei zu nennen, noch für
zeitgemäß, um aktuellen Herausforderungen
zu begegnen? Wie haben sich die Prinzipien
bei den Wohnungsgenossenschaften weiter-
entwickelt?
Die genossenschaftlichen Prinzipien der Selbst-
verantwortung und der Zusammenarbeit sind
heute aktueller denn je, denn die Übernahme
von Verantwortung ist die Grundlage der sozialen
Marktwirtschaft. Es macht die Genossenschaften
ja gerade deshalb so sympathisch und besonders,
dass sie Herausforderungen nicht an den Staat ab-
zuwälzen versuchen. Sie nehmen diese selbst in
die Hand und lösen sie.
Auch das Prinzip der Zusammenarbeit gewinnt in
einer immer stärker arbeitsteiligen Welt an Be-
deutung – nicht nur in Genossenschaften. Umso
wichtiger ist es auch, die – in Genossenschaften
seit langemgelebten – Prinzipien des Zusammen-
wirkens zu verstehen. Zusammenarbeit lebt von
Verantwortungsübernahme, aber auch von der
Akzeptanz des anderen. Und der ist eben nicht
so wie man selbst. Es geht darum, Kompromiss-
fähigkeit zu zeigen und umdie Bereitschaft, Ent-
scheidungen gemeinsam zu tragen. Auch wenn
sie nicht immer 100%ig der eigenen Meinung
entsprechen.
Welches der Prinzipien halten Sie für beson-
ders wesentlich? Welches bringt dem einzel-
nen Mitglied den größten Mehrwert?
Die genossenschaftlichen Prinzipien können nur
gemeinsam wirken. Eines davon herauszugrei-
fen, wäre verfehlt und würde die Idee der Genos-
senschaft verkennen. Die Selbstverantwortung
der Menschen ist ein wesentlicher Antreiber für
Genossenschaften, aber gleichzeitig kann diese
Selbstverantwortung nur gemeinsammit anderen
verwirklicht werden, da nur so die Größenvorteile
realisiert werden können, oder wie es Friedrich
Wilhelm Raiffeisen sagte: „Was einer nicht ver-
mag, das vermögen viele.“ Daraus folgt jedoch
sofort, dass eine Zusammenarbeit notwendig ist
und die Bedingungen für eine erfolgreiche Zusam-
menarbeit zu erfüllen sind. Dazu gehört auch, an-
zuerkennen, dass der eigenen Verantwortung und
Verwirklichung die Grenzen der Gemeinschaft ge-
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