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Für dieMitarbeiter selbst seien vor allem individu-
elle Lösungenwichtig, denn „kein Pflegefall istwie
der andere“, so Schirra. DieNassauischeHeimstätte
setze deshalb zuerst auf persönlicheGespräche und
die flexible Gestaltung der Parallelwelten Arbeits-
leben und Pflege. Seit geraumer Zeit erprobe das
Unternehmen auch eineReihe von unterstützenden
Maßnahmen für Beschäftigtemit Pflegeaufgaben:
Sie reichen von flexiblen Arbeitszeiten über spe-
zielle Sprechstunden zum Thema Pflege und die
Verlängerung der Pflegezeit über den gesetzlich
vorgeschriebenen Zeitraum hinaus bis hin zu ganz
individuellen Lösungen für einzelne Arbeitnehmer.
Erste praktische Erfahrungen
Bislang namen bereits 20 Mitarbeiter des Woh-
nungsunternehmens Pflegezeit in Anspruch. Al-
lerdings ließen sich die Angestellten in allen Fällen
nur für zehn Tage beurlauben, um Angehörigen in
Kurzzeitpflegeeinrichtungen unterzubringen. Im
Augenblick durchlaufen zwei Mitarbeiter die Aus-
bildung zum „Pflege-Guide“. Sie sollen später an
unterschiedlichen Standorten des Unternehmens
als ersteAnsprechpartner fungieren. Die AOK Hes-
sen hat diese Qualifizierungsmaßnahme feder-
führend übernommen, hessenweit sind zurzeit in
Betrieben bereits 142 Pflege-Guides aktiv.
Für eine anonyme Beratung und die konkrete
Planung der Pflegemaßnahmen steht den Mit-
arbeitern eine externe Beratung durch den PME
Familienservice zur Verfügung, die bei Bean-
tragung, Organisation und Finanzierung hilft.
Peter Schirra erläutert: „Pflege ist ein sensibles
und intimes Thema, das weit in die Privatsphäre
hineinreicht. Externe Spezialisten sichern hier
die nötige Vertraulichkeit.“ Seit dem Beginn
der Zusammenarbeit 2006 registrierten die
Fachberater 148 Anfragen von Mitarbeitern der
Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte/
Wohnstadt in den Bereichen Kinderbetreuung,
Home-/Eldercare und Lebenslagen-Coaching.
Knapp 42% entfielen dabei auf das Arbeitsgebiet
Pflege- und Altenbetreuung. Der überwiegende
Anteil der Konsultationen betraf pflegebedürftige
Angehörige, in vielen Fällen konnten auch Betreu-
er und Pflegekräfte vermittelt werden. Insgesamt
betreut PME Familienservice 562 Unternehmen
mit ihrem Paket „Beruf und Pflege“.
Mit Arbeitsstart der Pflege-Guides, der Verteilung
einer eigens ausgearbeiteten Broschüre und der
verstärkten Sensibilisierung für das Thema bei Vor-
trägen und über interne Medien werden auch die
Fallzahlen steigen, ist sich Schirra sicher. Besonde-
res Augenmerk gilt dabei den Männern. Denn die
Hauptlast der Pflege imhäuslichen Umfeld tragen
Frauen, die ebenfalls deutlich häufiger Elternzeit
in Anspruch nehmen alsMänner. Das BiB kommt in
seinemBevölkerungsreport 2016 zu demSchluss,
dass „die Erwerbsbeteiligung von Frauen noch im-
mer viel stärker familiären Einflüssen“ unterliege.
Als Gründe für eine Teilzeitbeschäftigung geben
nur 3,5% der betroffenen Männer die Pflege von
Angehörigen an, bei Frauen lag der Prozentsatz
mit 27,2% rund neun Mal so hoch.
Peter Schirra betont: „Wennwir diese Quote lang-
fristig zugunsten der Männer verschiebenwollen,
müssen wir klar kommunizieren und vorleben,
dass eine flexible Arbeitszeit wegen Elternzeit
oder Pflege gewünscht ist, zu keinerlei Nachtei-
len bei Karriere und Vorwärtskommen führt und
innerhalb des Betriebes als gesellschaftlichwich-
tiges Engagement anerkannt ist.“ Ob die Männer
die Botschaft hören?
134 Unternehmen und Institutionen aus verschiedenen Branchen haben die
„Charta zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege in Hessen“ mittlerweile unter-
zeichnet. Mit der Unterzeichnung wollen sie folgende Beiträge leisten (Auszüge):
1. Wir wollen ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem die Pflege der Angehörigen
kein Tabu ist. Wir stimmen darin überein, dass Beschäftigte, die Angehörige
pflegen oder betreuen, eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe ubernehmen.
2. Wir wollen eine Organisationskultur fördern, die von Respekt und Wert-
schätzung fur die Übernahme der Verantwortung fur pflegebedurftige
Angehörige geprägt ist. Wir schaffen die Voraussetzungen dafur, dass alle
Beschäftigten, insbesondere solche mit Fuhrungsaufgaben, diese Werte
erkennen, teilen und leben.
3. Wir wollen einen lösungsorientierten Umgang mit den Situationen der pfle-
genden Beschäftigten etablieren, denn jede Pflegesituation ist anders und
kann sich zudem immer wieder ändern.
4. Wir wollen den innerbetrieblichen Informationsstand uber die gesetzlichen
Rahmenbedingungen und uber die im Betrieb und in der Kommune vorhan-
denen Unterstutzungsleistungen bei allen Beschäftigten verbessern.
5. Wir wollen einen innerbetrieblichen Dialog uber unsere Aktivitäten bei der
Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege aufbauen und regelmäßig
innerbetrieblich Auskunft uber die erfolgten Fortschritte geben.
6. Wir wollen unser Engagement fur eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und
Pflege zu einem Bestandteil des externen Dialogs machen.
7. Unser gemeinsames Ziel ist, die Übernahme der Verantwortung fur
pflegebedurftige Angehörige zu unterstutzen.
DIE CHARTA IM WORTLAUT
Weitere Informationen:
Neubau und Sanierung
Energie und Technik
Rechtssprechung
Haufe Gruppe
Markt undManagement
Stadtbauund Stadtentwicklung
Quelle: Nikodash/shutterstock.com
Sich Zeit für pflegebedürftige Familienmitglieder nehmen zu können, ist ein Privileg,
das auch bei der Jobauswahl entscheidend sein kann