Das Geschäftsmodell der Wohnungswirt-
schaft ist im Vergleich zu anderen Bran-
chen über Jahrzehnte vergleichweise stabil
gewesen. Lange Zeit hat die Digitalisierung
dieses Geschäftsmodell nicht grundsätzlich
infrage gestellt, sondern lediglich die Pro-
zesseffizienz betroffen. Inzwischen aber ist
die Digitalisierung selbst zur Herausforde-
rung geworden, die von den Unternehmen
seit etwa eineinhalb Jahren auch sehr inten-
siv diskutiert wird. Einige Trends sind dabei besonders zu berücksichtigen.
Einer davon ist der Umstand, dass die Kundenbeziehung mehr und mehr ins
Internet wandert. Im Einzelhandel, bei den Banken und in der Hotellerie ist
der Vermarktungsprozess bereits jetzt an denjenigen angedockt, der das
Internetportal beherrscht, und nicht mehr an denjenigen, der die Dienst-
leistung erbringt. Wer heute auf Booking.com ein Hotel sucht, macht seine
Wahl entscheidend von der Kundenbewertung abhängig – ganz egal, wie
schön die Website des Hotels ist. Diese Entkopplung des Geschäftsmodells
von den eigentlichen Immobilien stellt gerade für die Wohnungswirtschaft
eine Herausforderung dar, da sie sich traditionell über ihre Immobilien
bestimmt.
Auch die Bedeutung der Daten ist für die Wohnungswirtschaft groß. Wir
stellen in Deutschland ja eine gewisse Schizophrenie fest: Während im
privaten Bereich sehr freigiebig mit Daten umgegangen wird, ist die staat-
liche Regelung ausgesprochen restriktiv. Aber die Daten sind wichtig, weil
sie gesellschaftliche Entwicklungen, Unternehmensprozesse und sogar
politische Entscheidungen beeinflussen. Hier hat die Wohnungswirtschaft
mit ihren Daten einen Schatz, den sie noch besser nutzen kann, selbstver-
ständlich immer im Rahmen des Datenschutzrechts.
Potenzial sehe ich auch beim Internet der Dinge. Es ist deutlich preiswer-
ter und einfacher geworden, Geräte in der Wohnung zu vernetzen. Damit
gelangen wir in eine Kostendimension, die solche Lösungen wirtschaft-
lich macht. Aus meiner Sicht bietet diese Vernetzung die Möglichkeit, das
Wohnungsunternehmen mit seinem Produkt zu verbinden. Die IT ist also
nicht mehr nur ein Thema im Unternehmen, sondern auch ein Thema im
Produkt des Unternehmens. Wohin das führen kann, zeigt die Autoindus-
trie: Bei ihr ist die IT zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor geworden.
Weil sich viele andere Parameter weitgehend ähneln, gibt letztlich z. B.
das Entertainmentprogramm im Auto den Ausschlag. Diese breite Palette
an Themen zeigt, dass sich die Wohnungswirtschaft intensiv mit der Digi-
talisierung beschäftigen muss. Dabei sehe ich vorrangig Chancen und nicht
Gefahren. Die Wohnungswirtschaft kann z. B. ihre Kundenbeziehungen
über das Internet neu gestalten. Wir haben einen Kunden in Holland, der
den kompletten Vermietungsprozess bis zum Vertragsabschluss online
strukturiert hat. Die dadurch gewonnene Zeit nutzt dieser Kunde, um die
Beziehung zum Mieter zu pflegen. Andere Wohnungsunternehmen verkau-
fen zwischenzeitlich Dienstleistungen an ihre Mieter.
Wenn man diese Chancen nutzen will, muss man allerdings das Unterneh-
men umbauen. Wer nur die Technologie implementiert und die Prozesse
so weiterlaufen lässt wie bisher, wird scheitern. Entscheidend ist dabei,
dass die Wohnungswirtschaft nach wie vor einen privilegierten Zugang
zur Wohnung und zum Mieter hat. Für Messdienstleister und andere Dritte
ist es ja nicht so einfach, an den Mieter ranzukommen, ohne mit dem
Wohnungsunternehmen zu kooperieren. Wenn die Wohnungsunterneh-
men die Chancen dieses privilegierten Zugangs nutzen, dann wird es ihnen
gelingen, die Kundenbeziehungen auszubauen, die Effizienz zu steigern,
Energie zu sparen und einen Beitrag zur Bewältigung der demografischen
Herausforderung zu leisten.
Dr. Manfred Alflen, Vorstandsvorsitzender, Aareon AG, Mainz
Die Kundenbeziehung wandert ins Internet
hin? Über diese Fragen müssen wir diskutieren.Gefahren sehe ich auch auf
wirtschaftlicher Ebene. Unter den weltweit 20 größten börsennotierten
Unternehmen sind zehn Internetplattformen. Ich finde es beängstigend,
dass das eine oder andere dieser Unternehmen eine größere Börsenka-
pitalisierung hat als Daimler. Diese Plattformen greifen im Wesentlichen
über drei Mechanismen die Märkte an: Sie sind bequemer, preiswerter und
schlauer. Damit schieben sie sich zwischen die Dienstleistungen, die von
kleinen und mittleren Unternehmen erbracht werden, und saugen dem
Mittelstand Marge ab. Im Laufe der Zeit werden deshalb unserer Wirt-
schaft signifikante Beträge entzogen.
Einen möglichen Ansatz zum Gegensteuern sehe ich darin, auf lokaler
Ebene mit verschiedenen Akteuren Wertschöpfungsketten zu bilden, die
wirtschaftlich fähig sind, diesen Plattformen Einhalt zu gebieten. Um das
konkret zu machen: Ich bin ehrenamtlicher Vorstand einer Wohnungsge-
nossenschaft in Zwickau. Obwohl die Messdienstleister nicht unbedingt
unsere besten Freunde sind, arbeiten wir mit ihnen bei Entwicklungspro-
jekten zusammen. Da kooperiere ich nämlich lieber mit Metrona als mit
Google. Grundsätzlich stelle ich fest, dass Werte umdefiniert werden,
und zwar nicht zum Positiven. Im Prinzip gehen Werte verloren, teilweise
schleichend, teilweise mit enormer Geschwindigkeit. Was das heißt, ver-
deutlicht ein Blick auf die Physik: Schwin-
gende Systeme brauchen Entprellzeiten,
um sich wieder zu stabilisieren. In der
Digitalisierung gibt es keine Entprellzeiten
mehr. Das führt dazu, dass irgendwann ein-
mal die Systeme kollabieren und wir wieder
bei null anfangen müssen.
Ansätze dazu zeigen sich im Bildungssys-
tem. Unsere Kinder und Jugendlichen sind
sicher nicht dümmer als früher. Aber das
System führt sie nicht mehr an die Grenzen. Was die über 50-Jährigen
durch ihre Ausbildung und die Vermittlung von Werten gelernt haben, das
ist weg, und das holen wir in den nächsten 20 bis 30 Jahren auch nicht
mehr auf. Wir haben eine Generation, für die immer alles da ist und alles
immer preiswerter wird. Viele Angehörige dieser Generation sind nicht
mehr in der Lage, normal zu kommunizieren und „bitte“ und „danke“ zu
sagen. Auch bei meinen Studenten beobachte ich, dass die Einsatz- und
Anstrengungsbereitschaft mit der Digitalisierung verloren gegangen ist.
Deshalb muss es erlaubt sein, die Frage zu stellen, ob diese Entwicklung
unser Gesellschaftssystem nicht immer weiter nach unten dreht.
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11|2015
MARKT UND MANAGEMENT