DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 11/2015 - page 79

Ich empfinde die Digitalisierung als Dilemma. Einerseits erlebe auch ich
die Begeisterung für die Digitalisierung und kann dabei auch wirtschaft-
lich gut mitspielen. Andererseits dürfen wir vor der Dramatik der Entwick-
lung und vor den mit der Digitalisierung verbundenen Gefahren nicht die
Augen verschließen. Sicher bietet die Digitalisierung Chancen, aber aus
meiner Sicht überwiegen die Gefahren.
Wie sieht es in unseren großen Wohngebieten aus? Wir haben ein Durch-
schnittsalter von 65,4 Jahren und über 50% Singlehaushalte. Die Singles
reproduzieren sich nicht mehr in hinreichender Art und Weise, weil das
eben digital nicht geht. Außerdem haben wir ein krampfhaftes, geradezu
gefährliches Streben nach Mobilität. Wo liegen die Grenzen der Digitali-
sierung? Ist es überhaupt noch sinnvoll, was wir tun? Wo führt uns das
Als Verband befassen wir uns seit Jahren mit der Digitalisierung. Dabei
beobachte ich momentan mehrere Ebenen. Die erste ist der Umgang mit
den Daten im Unternehmen, der uns vor vollkommen neue Herausfor-
derungen stellt. Denn es geht nicht mehr nur um Mieterdaten, sondern
auch um Handwerker- und Abrechnungsdaten, die sofort verarbeitet wer-
den müssen. In Zukunft werden außerdem immer mehr Verbrauchsdaten
dazukommen, mit denen die Unternehmen aktiv umgehen werden. Sie
werden den Mieter also z. B. im August darauf aufmerksam machen, dass
seine Vorauszahlungen im September aufgebraucht sind und er mit einer
Nachzahlung in Höhe von 500 € rechnen muss.
Die zweite Ebene ist die Wohnung, in der die Digitalisierung neue Dienst-
leistungen ermöglicht. Dabei ist vor allem im ländlichen Raum die Tele-
medizin ein zentrales Thema. Denn bei uns in Sachsen müssen viele
Kranke 50 km weit fahren, um die nächste Arztpraxis oder das nächste
Krankenhaus zu erreichen. Leider steht das Thema E-Health momentan
nicht im Fokus, da es die Ärzte vehement ablehnen. Das ist sehr bedau-
erlich, da viele Mitglieder unserer Genossenschaften im ländlichen Raum
wohnen und da allein gelassen werden. Wie groß der Bedarf ist, sehen wir
daran, dass die von uns entwickelten Dienstleistungen des Ambient Assis-
ted Living (AAL) sehr dankbar angenommen werden.
Darüber hinaus haben wir auch erste Informationsportale, die z. B. darü-
ber informieren, wo der nächste Taxistand ist, wann der Bus abfährt und
welches Menü beim Essen auf Rädern geliefert wird. Das aber funktioniert
nur, wenn schnelles Internet vorhanden ist.
Und damit bin ich auf der politischen Ebene.
Denn Breitbandausbau im ländlichen Raum
ist Zukunftsmusik. Noch wackelt da über-
all das Bild. Allerdings stellt sich die Frage,
wo es sich denn überhaupt noch lohnt, ein
Breitbandnetz anzulegen. In Sachsen wer-
den manche Kleinstädte noch einmal viele
Einwohner verlieren. Ich meine deshalb,
dass es sinnvoller ist, sich auf Regionen mit
einer wirklichen Zukunftsperspektive zu konzentrieren. Dieser Erkenntnis
verweigert sich aber die Politik, weil sie mit diesem Thema zu verlieren
glaubt. Was bei uns im ländlichen Raum hingegen keine große Rolle spielt,
ist der Datenschutz. Um es deutlich zu sagen: Unseren Mitgliedern ist es
vollkommen egal, ob ihre Blutdruckwerte bei der NSA landen, Hauptsa-
che, sie sind medizinisch gut versorgt.
Zum Schluss ein Ausblick: Wir arbeiten mit vielen Partnern zusammen,
u. a. mit dem Deutschen Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz in
Saarbrücken. Es hat ein Smartphone entwickelt, das es Blinden erleich-
tert, sich in Häusern zurechtzufinden, indem es sie z. B. zum Aufzug leitet.
Das Institut entwickelt für uns eine abgespeckte Variante, damit demenz-
kranke Menschen ihren Weg zurück nach Hause finden. Das ist ein breites
Feld, auf dem wir uns gern einbringen.
Dr. Axel Viehweger, Vorstand, Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften e. V., Dresden
Das Überleben ist wichtiger als der Datenschutz
Prof. Dr. Tobias Teich, Professur für Wirtschaftsinformatik, Westsächsische Hochschule Zwickau
Die Gefahren der Digitalisierung überwiegen
weg, der von Kurzfristigkeit und Mobilität
geprägt ist. Das hat natürlich Einfluss auf
die Wohnungsnachfrage, wie der Boom der
Mikroapartments beweist. Gleichzeitig ver-
lagern die Mieter dieser Kleinwohnungen
einen Teil ihres Lebens nach außen in dritte
Räume. Sie gestalten ihr soziales Leben also
im öffentlichen Raum oder auch in Räumen,
die ein Wohnungsunternehmen gezielt für
diesen Zweck zur Verfügung stellt.
Am spannendsten aber finde ich den „Sharing“-Gedanken, der sich immer
stärker durchsetzt. Der hat schon fast etwas Revolutionäres. Er rüttelt an
den Grundfesten unserer kapitalistischen Ordnung, da man heute einen
Gegenstand nicht mehr kaufen oder dauerhaft exklusiv mieten muss, um
ihn nutzen zu können. Die Wohnungswirtschaft betrifft dies insbeson-
dere mit den Übernachtungsportalen im Internet. Einige Wohnungsun-
ternehmen müssen feststellen, dass ihre günstig vermieteten Wohnungen
teilweise zu hohen Übernachtungspreisen bei Airbnb angeboten werden.
Ein anderes Beispiel ist das Carsharing. Wenn immer mehr junge Men-
schen kein Auto mehr kaufen, brauchen auch immer mehr Mieter kei-
nen Stellplatz mehr. Stattdessen fragen sie vielleicht nach dem nächsten
Carsharing-Stellplatz. Das zeigt: auf die Wohnungswirtschaft kommen
Anforderungen zu, die wir heute noch gar nicht absehen können. Wir müs-
sen mit wachem Geist verfolgen, wohin die Entwicklung geht.
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