Wir sprechen über Wohnen 2.0, und das in
einer Branche, die in 40- bis 80-jährigen
Produktzyklen denkt. Das macht den Ver-
änderungsprozess nicht einfacher, aber ich
bin mir sicher, dass wir diesen äußerst kom-
plexen und diffizilen Veränderungsprozess
annehmen müssen. Wie nötig das ist, zeigen
am klarsten die Veränderungen in der Kom-
munikation mit den Mietern. Diese Verände-
rung fing vor 20 Jahren an, als wir begannen,
unsere Briefvorlagen auszumisten, mit denen wir unsere Neumieter auffor-
derten, in der Geschäftsstelle vorzusprechen und den Mietvertrag zu unter-
schreiben. Wir haben uns E-Mail-Accounts zugelegt, und inzwischen können
wir auch mit sozialen Medien umgehen. Aber der nächste Entwicklungs-
sprung wird das digitale Mieterportal sein, da bin ich mir sicher.
Die Kunst dabei wird sein, auf der einen Seite den Altmieter nicht zu verlieren
und mit ihm nach wie vor auf einer Ebene zu kommunizieren, die er versteht,
auf der anderen Seite aber auch den Ansprüchen der WhatsApp-Generation
gerecht zu werden. Denn das wird die nächste Generation sein, die bei uns
einzieht. Dabei geht es nicht nur um die Kommunikation, sondern auch um
die Ermittlung, Aufbereitung und Weitergabe von Daten in allen Bereichen
rund um das Leben in der Wohnung. Das fängt an bei Energieverbrauch und
-einsparung, umfasst aber auch Fragen der Ernährung, des Konsums und
des Transports, also zentrale Themen der Smart City. Weitere Punkte wer-
den Gesundheitsüberwachung, Pflege und nachbarschaftliche Vernetzung
sein. Das sind alles hochspannende Themen. Ich sehe hauptsächlich zwei
Ansätze. Zum einen müssen wir die internen Prozesse beschleunigen, wobei
es manchmal gut ist, wenn der Druck von außen kommt, wie wir das bei der
Einführung unseres Mieterportals erfahren haben. Zum anderen müssen wir
das Produkt Wohnung in den Blick nehmen. In den letzten Jahren haben
wir die ganze Innovationskraft in die energetische Gebäudekonfiguration
gelegt und uns dabei zu wenig mit der technischen Ausstattung im Gebäude
befasst. Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen, beispielsweise mit Blick auf
die Auswahl der richtigen Assistenzsysteme für die Bewohner.
Um diesen Veränderungsprozess bewältigen zu können, ist es erforderlich,
unsere IT-Umgebung komplett neu aufzusetzen. Meiner Ansicht nach müs-
sen wir davon wegkommen, alles auf das ERP-System auszurichten, und
stattdessen hin zum Datenmodell kommen. In unserer Genossenschaft ste-
hen wir vor der ERP-Umstellung. Dabei befassen wir uns im Moment noch
gar nicht damit, was das System alles können muss, sondern wir wollen erst
einmal sicherstellen, dass wir ein flexibles, dynamisches Datenmodell hin
zumERP-Systemabbilden können. Ich betrachte das als eine strategisch sehr
wichtige Aufgabe. Denn das Ziel muss sein, dass wir die Daten beherrschen
und nicht andere, beispielsweise die Stromkonzerne undWasserversorger. Es
darf nicht sein, dass wir als Wohnungswirtschaft die Infrastruktur aufbauen
und dann andere damit Wertschöpfung betreiben, wie das im Grunde die
Messdienstleister jetzt schon machen. All diesen Themen stelle ich mich als
Leiter eines Wohnungsunternehmens gern.
Ich möchte unser Thema von der gesellschaftspolitischen Seite betrach-
ten. Beeindruckt hat mich ein Artikel im „Handelsblatt“, der die Entwick-
lungen auf dem chinesischen Automobilmarkt unter die Lupe genommen
hat. Demnach ist China das Land mit der höchsten Zuwachsrate bei mobi-
len Internetnutzern. Die Folge davon ist, dass für immer mehr Käufer
die Automarke gar nicht mehr wichtig ist, weil sie ein autonom fahren-
des Auto suchen, das sie möglichst wenig beim Surfen im Internet stört.
Vielleicht wird man irgendwann daraus die provokante These ableiten
können, dass es dem dauersurfenden Mieter auch nicht mehr so wichtig
ist, wie die Wohnung aussieht. Noch ist es nicht so weit, aber die gesell-
schaftlichen Veränderungen sind unübersehbar.
Für die jungen Leute, die zur Generation der „Digital Natives“ gehören,
ist die Vernetzung in sozialen Netzwerken selbstverständlich geworden.
Das hat weitreichende Folgen. Ich bin z. B. überzeugt davon, dass diese
Netzwerke dafür verantwortlich sind, dass die Zahl der Schwarmstädte
in Deutschland zwischen 2002 und 2012 von fünf auf 29 gestiegen ist.
Diese Zunahme lässt sich so erklären, dass die jungen Menschen über
ihre digitale Vernetzung einen stärkeren gemeinsamen Trend entwickelt
haben, als das früher möglich war, als man dem anderen noch „face to
face“ sagen musste, in welcher Stadt es sich gut leben lässt.
Ein zweiter Trend ist die Individualisierung. Junge Menschen haben
heute keine lineare Biografie mehr, sondern einen dynamischen Lebens-
Dr. Peter Schaffner, Leiter Geschäftsbereich Wohnungswirtschaft, Aareal Bank AG, Wiesbaden
Die gesellschaftlichen Veränderungen sind unübersehbar
Rainer Böttcher, Vorstand, FLÜWO Bauen Wohnen eG, Stuttgart
Wir müssen das Produkt Wohnung in den Blick nehmen
kommen werden, sich mit generellem Mieterverhalten inklusive Kon-
sumforschung zu beschäftigen, um so zu erkennen, welche Moden und
Trends sich mit hoher Geschwindigkeit in die Wohnungen hineinbewegen.
Setzt man voraus, dass der Vermieter Herr über die Wohnung und über die
Daten bleiben will, stellt sich die Frage, wie sich das erreichen lässt. Wie
können sich die Wohnungsunternehmen in diesen Prozess so einklinken,
dass sie gewissermaßen ein Ökosystem aufbauen, das den Mieter insge-
samt umgibt? Ähnlich wie die großen Internetkonzerne sollten sie eine
Plattform schaffen, die dem Mieter viele Möglichkeiten bietet, die ihn
gleichzeitig aber auch technisch auf ihrer Plattform hält. Damit sich das
kostenmäßig trägt, müssen wir geeignete Geschäftsmodelle entwickeln.
Damit sollten wir uns intensiv auseinandersetzen.
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11|2015
MARKT UND MANAGEMENT