DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 8/2015 - page 67

65
8|2015
starke Personen. Im Fachjargon heißt das: corpo-
rate culture. Besonders hängt es an den Persön-
lichkeiten, die Können und Durchhaltevermögen
vereinen müssen. Diese Projekte organisieren
sich selbst, während die von Bestandsgenossen-
schaften initiierten Projekte mehr vom Vorstand
geleitet und durch das hier bestehende Know-how
begleitet werden. Die Sichtweisen sollten bei ei-
ner Kooperationweitgehend übereinstimmen und
die Chemie selbstverständlich auch, sonst besteht
ein Hemmnis oder im positiven Fall natürlich ein
beschleunigender Faktor.
Und wie ist die Reaktion aus der Mitglie-
derschaft der etablierten Wohnungsge-
nossenschaften? Werden Wohnprojekte als
dem Gleichheitsgrundsatz widersprechend
wahrgenommen? Als Gruppen, die unter
das Dach der Genossenschaft schlüpfen,
sich an der solidarischen Gemeinschaft aller
Mitglieder aber nicht beteiligen, sondern
Extrawürste – wie besondere Grundstücke,
organisatorische Aufmerksamkeit, Förderun-
gen, Finanzmittel, Auswahl der Mitbewohner
etc. – bekommen?
Das ist schwer zu sagen. Die Genossenschaften
sollten darauf achten, dass sich ihre „Altmitglie-
der“ nicht benachteiligt fühlen, dass sie z. B. auch
Angebote für neue Wohnformen erhalten. Abge-
sehen davon, dass der Gleichheitsgrundsatz auch
überstrapaziert werden kann, muss im Falle einer
Kooperation ein Ausgleich geschaffen werden.
Beide Seitenmüssen ihr Gesicht wahren, niemand
darf übervorteilt oder ausgenutzt werden.
Extrawürste haben Wohnungsgenossenschaf-
ten sicherlich nicht im Angebot, aber es spricht
nichts dagegen, Grundstücke für gemeinschaft-
liche Wohnformen zur Verfügung zu stellen. Der
Nachbarschaftsgedanke gehört zum Credo einer
jeden Traditionsgenossenschaft. Insofern ist es
begrüßenswert, wenn die Bewerber ihre Nach-
barschaft und ihre sozialen Netze gleich mitbrin-
gen. Eine Sonderbehandlung oder -förderung
lässt sich daraus nicht ableiten. Warum soll eine
Wohngruppe nicht selbst Mitbewohner aussu-
chen? Auf der anderen Seite sollte dafür jedoch
ein Entlastungseffekt für die Genossenschaft, z. B.
bei der Verwaltung, entstehen. Wichtig ist auch,
dass Mitglieder der Wohngruppe in der Genossen-
schaft selbst mitwirken.
Ein anderer Blickwinkel: Es bestehen Bestre-
bungen, im Genossenschaftsgesetz Erleich-
terungen für sog. Kleinstgenossenschaften
(das wären ggf. auch als Projektgenossen-
schaft organisierte Wohnprojekte) zu schaf-
fen und diese u. a. von der genossenschaft-
lichen Pflichtprüfung zu befreien. Wäre das
auch für Wohnprojekte hilfreich?
Was die Erleichterungen bei der Pflichtprüfung
für kleine Genossenschaften oder Wohnprojekte
angeht, habe ich eine eindeutige Haltung: Das
Genossenschaftswesen ist so erfolgreich, weil die
Idee eine gute DNS darstellt und weil von Anfang
an eine Prüfung seitens der Genossenschaftsver-
bände vorgenommen wird. Das schafft Seriosität,
Stabilität und Insolvenzschutz, was wiederumdie
gesamte Branche fördert. Die politische Intenti-
on, mehr Gründungen zu produzieren durch eine
Befreiung von der genossenschaftlichen Pflicht-
prüfung kann genau zum Gegenteil führen, weil
gerade der Wohnungsbau eine sehr kapitalinten-
sive und wissensintensive Branche ist. Ich halte
überhaupt nichts von einer sog. Genossenschaft
„light“.
Wofür plädieren Sie? Sollten Wohnungsge-
nossenschaften neue, gemeinschaftliche
Wohnformen initiieren bzw. mit derartigen
Projekten zusammenarbeiten?
Eine Wohnungsgenossenschaft ist per se schon
eine gemeinschaftliche Wohnform. Insofern
spricht nichts dagegen, wenn die von Ihnen ge-
nannten „klassischen Genossenschaften“ auch
neue Wohnprojekte initiieren bzw. wenn unter
ihren Dächern solche Projekte ein Zuhause finden.
Wir müssenmit der Zeit gehen. Gemeinschaftliche
Wohnformen können das Angebot für bestimmte
Zielgruppen anreichern. Wenn dieseWohnformen
an Attraktivität gewinnen, dann nehmen wir sie
gerne auf in unsere genossenschaftliche Nach-
barschaft.
Vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte Olaf Berger.
Im baden-württembergischen Esslingen
initiierte die Bestandsgenossenschaft Bauge-
nossenschaft Esslingen eG (BGE) das Projekt
„MehrGenerationenWohnen Zollberg“. Auf
dem Gelände einer 2002 geschlossenen Ju-
gendherberge realisierte sie bis 2010 den Neu-
bau von 41 Wohnungen in vier Häusern. Das
Mehrgenerationenwohnkonzept konkretisierte
eine Projektgruppe aus BGE, Stadtverwaltung,
einem Bürgerausschuss des Stadtteils Zollberg,
ein Förderverein und der Stadtseniorenbeirat. Zielgruppen für die weitgehend barrierefreien
Mietwohnungen mit flexiblen Grundrissen und hohem energetischen Standard waren ältere
Menschen, Familien und Alleinlebende. Der Anteil der Familien beträgt derzeit 40%. Rund 50%
der 72 Bewohner waren bereits vor ihrem Einzug Mitglieder der BGE oder anderer Genossen-
schaften. Ein großer Gemeinschaftsraum mit Teeküche und Büro ergänzt das Pilotprojekt, mit
dem die BGE Erkenntnisse für andere Projekte gewinnen möchte.
PROJEKTBEISPIEL: MEHRGENERATIONENWOHNEN ZOLLBERG
Weitere Informationen:
Neubau und Sanierung
Energie und Technik
Rechtssprechung
Haufe Gruppe
Markt undManagement
Stadtbauund Stadtentwicklung
Quelle: BBSR, Foto: Ricarda Pätzold
Im Projekt leben 72 Personen in 41 Wohnungen
sellschaftliche Entwicklungen und Trends wie den
demografischen Wandel, die Ausdifferenzierung
von Lebensstilen und den Wunsch nach Einbet-
tung in eine nachbarschaftliche Gemeinschaft
gesehen.
Seit 2000 ist ein verstärktes Gründungsgesche-
hen zu verzeichnen. Da erfolgreiche Projekte neue
Projekte anstoßen, ist absehbar, dass die Zahl der-
jenigen, die in EigenregieWohnprojekte gründen,
weiter zunehmen wird.
Gleichwohl bleibt abzuwarten, ob gemeinschaft-
liche Wohnprojekte insgesamt und in der Rechts-
form der eG zu einem Massenphänomen werden,
denn angesichts der Zahl von knapp 2.000 beste-
henden Wohnungsgenossenschaften in Deutsch-
land sind gemeinschaftliche Wohnprojekte in der
Rechtsform der eG eher noch ein „Sahnehäub-
chen“ der Wohnraumversorgung.
Weitere Informationen:
bbsr.bund.de
,
gdw.de
und
difu.de
Rechtssprechung
Haufe Gruppe
t
1...,57,58,59,60,61,62,63,64,65,66 68,69,70,71,72,73,74,75,76,77,...84
Powered by FlippingBook