wirtschaft und weiterbildung 10/2015 - page 38

training und coaching
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wirtschaft + weiterbildung
10_2015
definiert ist. Wir brauchen dazu nicht in
die Kindheit zu gehen. Hier reichen Ver-
mutungen, wenn es keine klaren Erin-
nerungen dazu gibt, welche Situationen
ursächlich für die Entstehung waren. Und
selbst wenn es ganz und gar so gewesen
ist, wie es der Richter jetzt festhalten will,
ist es nicht mehr als ein Ereignis vor 20,
30 oder 40 Jahren. Wichtiger für heute
sind die letzten zehn Jahre.
Häufig kommen die Coachees zur nächs-
ten Sitzung und berichten, dass es in den
letzten zehn Jahren nicht ein einziges Mal
vorgekommen ist, dass sie zum Beispiel
„dumm, unfähig und ungeliebt“ waren.
Der Richter müsste ja hier eigentlich
schon erkennen, dass seine Konstrukte
nicht stimmen. Aber er nutzt selbst diese
Erkenntnis noch nach seinem Schema
und reagiert mit so etwas wie „Ja, du
hast dich ja auch an meine Regeln gehal-
ten. Sonst wäre es anders gelaufen. Das
ist nur Beweis dafür, dass du dich weiter
an meine Regeln halten musst!“ Meist ist
die Erkenntnis des Realitätschecks stark
genug, ihm hier nicht weiter auf den
Leim zu gehen.
Aufgrund der frühen unangenehmen Er-
fahrungen, die wir alle machen, hat der
Richter seine Schlüsse gezogen. Da er
weder differenzieren kann, noch den Ge-
samtkontext erkennen konnte und auch
keine Feedback-Regeln kennt, hat er diese
negativen Erfahrungen immer auf die Per-
son bezogen, nicht auf das Verhalten. So
wird aus dem ursprünglich grundsätzlich
lebens- und liebenswerten Neugeborenen
ein Mensch, der an seiner Lebens- und
Liebenswertigkeit zweifelt und sich an
ein oft umfassendes Regelwerk halten
muss, um okay zu sein.
Das wahre und das
falsche Selbst
Viele leben strikt nach den Vorgaben
des Richters und erlangen dennoch nie
das Paradies, in dem sie endlich spüren
würden, dass sie okay sind und so sein
dürfen, wie sie sind. Frust, Lustlosigkeit,
Desorientierung, Erschöpfung und auch
Burn-out sind die Folge. Und genau diese
Folgen sind ein wichtiger Zugang zum
wahren Selbst. Das wahre Selbst, das Ur-
Ich, das Wesen, das schon vor all diesen
Konstrukten da war, leidet darunter, dass
es nicht so sein darf, wie es ist. Dass es
nicht okay ist. Wenn wir versuchen, die-
ses Leid nicht zu spüren (was der Rich-
ter wieder gegen uns verwenden würde,
als weiteren Beweis unserer angeblichen
Schwächen), gehen wir oft in das soge-
nannte falsche Selbst, das Ego, über das
wir versuchen, uns als liebenswert oder
lebenswert zu definieren.
Wir bieten damit im Außen einen Verhal-
tensbeweis, der das innere vermeintliche
Manko an Seins-Qualität ausgleichen soll.
Alle deutlich einseitigen Verhaltenswei-
sen, die, die einen als Ego-Nummer bei
anderen nerven, aber auch die, die leiser
und zurückhaltender sind, können eine
Identifikation des Egos indizieren. Sie
wirken wie die Botschaft „Ich bin okay,
weil...“. Dabei sind diese Feigenblätter
nur die Fake-Variante der Ur-Qualitäten,
die das wahre Selbst sowieso hat: Grund-
sätzlich stehen uns allen Liebe und Mit-
gefühl, Stärke, Wille, Freude, Interesse
und Neugier, Intelligenzen und individu-
elle Gaben zur Verfügung. Sie sind unka-
puttbar. Es könnte nur sein, dass auf-
grund mangelnder Vorbilder und damit
eigener Erlebenserfahrung oder aufgrund
der Richter-Konstrukte der Zugang dazu
ungeübt ist.
Der Kontakt zum wahren Selbst ist ein
wichtiger Schlüsselschritt in der Verände-
rungsarbeit und nicht immer leicht zu fin-
den. Am hilfreichsten ist hier das Fühlen,
weil das Denken oft schon mit den Vor-
gaben des Richters voll ist. Schwieriger
wird es, wenn es zu den Regeln des Rich-
ters gehört, nicht zu fühlen, oder wenn
die ständigen Attacken des Richters dazu
geführt haben, dass man aufgehört hat,
hinzufühlen. Dann muss zunächst der
Grund dafür erkannt werden, zum Bei-
spiel mit Coaching-Fragen wie „Wozu ist
es gut, nicht zu fühlen?“ und „Wie ma-
chen Sie es, nicht zu fühlen?“, deren Be-
antwortung Zeit und Vertrauen braucht.
Wird der Schmerz deutlich, ist es der
Schmerz des wahren Selbst. Er führt, wie
jeder Schmerz, zu Traurigkeit und/oder
Wut. Der Coach muss den Coachee dabei
unterstützen, diese beiden Gefühle zuzu-
lassen. Daraus entsteht das Mitgefühl für
sich selbst und die Kraft, den Richter neu
einzunorden.
Die Attacken des Richters
In der Praxis hat sich hier als sehr hilf-
reich gezeigt, das wahre Selbst in eine
kindliche Version (das attackierte kleine
Ich) und in eine erwachsene Version, die
dem tatsächlichen Alter des Coachees
entspricht, aufzuteilen. Das kleine Ich
spürt den Schmerz, das erwachsene Ich
sieht das und kann schützend eingreifen.
Es gibt auch Fälle, da ist der Schmerz zu
groß, um ihn im eigenen Bewusstsein
zuzulassen. In diesen Fällen ist es ange-
bracht, dies mit Hilfe eines Therapeuten
zu erarbeiten und dem Coachee dies
vorzuschlagen. Die Richter-Arbeit bleibt
– trotz früher Wurzeln – jedoch in der
Gegenwart und arbeitet nicht „alte Wun-
den“ auf.
Dies ist insbesondere nötig, wenn der
Richter das Selbst (wir nehmen hier das
kleine Ich) attackiert, zum Beispiel vor
einer Präsentation mit Gedanken wie
„Das kannst du nicht, das wird peinlich,
die werden alle sehen, dass du nicht
genug drauf hast!“. Der Richter hat, je
nach Definition des Selbstbilds, diverse
R
Realitätscheck.
Die aus Bestrafungen gelernten Regeln sollte jeder im Laufe des Lebens
überprüfen. Ein erfahrener Coach kann diesen Prozess unterstützen.
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