wirtschaft und weiterbildung 10/2015 - page 28

personal- und organisationsentwicklung
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wirtschaft + weiterbildung
10_2015
in den höheren Führungsetagen liefern
die Analysen des französischen Soziolo-
gen Pierre Bourdieu: Danach stehen im
Verteilungswettstreit nicht nur die Füh-
rungspositionen der Männer auf dem
Spiel, sondern – über das Aufbrechen der
Selbstverständlichkeit von Führungsposi-
tionen in männlicher Hand – das dahinter
liegende männliche Selbstverständnis.
Damit Frauen, die Führungspositionen
anstreben oder bereits in diesen Positi-
onen sind, nachhaltig wirken können,
brauchen sie jenseits der Quotenregelung
eine persönliche und professionelle Stra-
tegie, um mit der objektiven Ambivalenz
in den Unternehmen konstruktiv um-
gehen zu können. Und dabei hilft nicht
allein die persönliche und professionelle
Standortbestimmung, sondern auch ein
integrierter Ansatz, der die Unterneh-
menskulturen, die Strukturen und Pro-
zesse im Recruiting wie in der Personal-
entwicklung und bei der Besetzung von
Führungspositionen, die Gestaltung der
Arbeitszeitmodelle sowie die individuelle
weibliche Sozialisation, die Glaubens-
sätze, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen
und das private Umfeld reflektiert. Nur in
der Gesamtheit der Perspektiven gelingt
es, eine gute Orientierung und Antworten
auf die eigenen Karrierefragen zu finden.
Der Ansatz im Coaching
Coaching und Beratung, die in dieser
komplexen Situation allein auf die per-
sönliche Optimierung der Kandidatin und
die Steigerung ihrer Selbstdarstellung in
der Form männlicher Machtspiele set-
zen, reagieren mit Techniken auf der
Verhaltensebene auf eine gesellschaftlich
gestaltete komplexe Situation. Beratungs-
ansätze, die dagegen Frauen in Führungs-
positionen in ihrer betont weiblichen
Rolle als Führungskraft im Unterschied zu
männlichen Führungsvorbildern stärken
und die inneren Ressourcen aktivieren,
verlieren aus dem Blick, dass mit gestärk-
ter persönlicher Identität und Präsenz
objektive gesellschaftliche und in den Un-
ternehmen personalpolitisch über Jahre
verankerte Muster nicht zu verändern
sind. In beiden Fällen bleibt die unterneh-
merische Wirklichkeit unberücksichtigt,
weil die Beratung sich nur auf die indi-
viduelle Verhaltens- und Erlebensebene
konzentriert: einmal über die Verstärkung
R
Weiblicher Vorstand Finanzen in einem Energieunternehmen
Kompetenzprofil:
Amelie F. hat ein international sehr
überzeugendes Kompetenzprofil. Sie verfügt bereits über
die Schlüssel- sowie Führungserfahrungen, die in der
Vorstandsposition notwendig sind und hat unter Beweis
gestellt, dass sie sie einsetzen und für Unternehmen einen
Mehrwert bieten kann. Ihr fachliches Fundament bildet
eine ausgewiesene unternehmerische Kompetenz mit
klarer Zahlen-Daten-Fakten-Orientierung. Ihre Internati-
onalität, ausgezeichnetes Business English und die inter-
kulturelle Erfahrung im Umgang mit Wirtschaftspartnern
sind für ihr neues, global agierendes Energieunternehmen
unverzichtbar. In der Führung ist sie ergebnis- und mitar-
beiterorientiert.
Familiärer Hintergrund:
Amelie F. ist inzwischen über 50
Jahre alt und hat sich auf eine Karriere ohne Kinder kon-
zentriert. Sie ist glücklich verheiratet, teilt ein ausgefal-
lenes Hobby mit ihrem Ehemann und auch er ist wie sie
erfolgreich in seinem Job. Für die neue Position wird ein
Umzug notwendig, und das Coaching unterstützt beide Ehe-
partner darin, gemeinsam zu überlegen, welche Optionen
des Wohnens es für sie als Paar gibt und welche individu-
Beispiel 2.
Ein weiteres anonymisiertes Beispiel handelt von Amelie F.: Sie arbeitete zunächst
als Deutschland-Geschäftsführerin in einem international agierenden Konzern und strebte eine
Vorstandsposition an. Sie kam zum Coaching, um sich bei ihrem Vorgehen beraten zu lassen. Im
eigenen Unternehmen gab es keine Bereitschaft, sie ins Board zu berufen. Sie wollte sich deshalb
nach über zehn Jahren Firmenzugehörigkeit verändern. Nach sechs Monaten Beratung gelang der
Sprung in die Vorstandsetage. Die Position füllt sie bis heute – vier Jahre später – erfolgreich aus.
ellen Bedürfnisse sie unabhängig voneinander haben. Am
Ende entscheiden sie sich gemeinsam dafür, dass sie das
Haus am alten Wohnort erhalten und zunächst Amelie F.
ein halbes Jahr am Wochenende pendelt. Danach beschlie-
ßen sie, das Haus am früheren Wohnort zu verkaufen und
gemeinsam ein neues Haus am neuen Arbeitsort von Ame-
lie F. zu beziehen. Der Ehemann lebt dann unter der Woche
am alten Wohnort in einer kleineren Wohnung und pendelt
am Wochenende ins gemeinsame neue Haus am neuen
Wohnort.
Mindset:
In der Zusammenarbeit mit Amelie F. wird deutlich,
dass sie überwiegend positiv auf sich und ihre Fähigkeiten
blickt. Sie ist nicht nur nach außen hin eine überzeugende
Persönlichkeit, sondern lebt diese Zufriedenheit auch nach
innen. Sie mag sich selbst und drückt aktiv aus, dass sie
Einfluss auf ihr persönliches und berufliches Leben hat und
es im Leben immer mehr als nur eine Option gibt. Bei aller
Zielorientierung hinsichtlich ihrer beruflichen Perspektive
fällt ebenso auf, dass sie sich eine innere Flexibilität des
Wünschens erworben hat und ihren Selbstwert nicht an das
Erreichen bestimmter Positionen koppelt.
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