wirtschaft und weiterbildung 10/2015 - page 39

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wirtschaft + weiterbildung
10_2015
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„Spielwiesen“ für seine Attacken – zum
Beispiel Themen wie:
• die berufliche Kompetenz
• die Attraktivität als Mann oder als Frau
• der eigene Körper (er steht meist mit
auf der Waage)
• die Rolle Tochter oder Sohn sein
• die Rolle Vater oder Mutter sein.
Eine Attacke lässt sich daran erkennen,
dass man sich nicht gut in seiner Haut
fühlt. Dann gilt es „hinzuhören“: Wel-
cher Gedanke ging dem voraus? Was sagt
oder denkt der Richter gerade über mich?
Meist hat eine Attacke einen situationsbe-
zogenen Teil und einen Nachsatz, der das
Konstrukt zum Selbstbild oder zur Rolle
oder den Regeln enthält, zum Beispiel:
„Mein Gott, war das peinlich, dass dir der
Name von dem nicht eingefallen ist. Du
standst da wie blöd! (situationsbezogener
Teil) Da konnte man mal wieder sehen,
wie dumm du bist (selbstbildbezogener
Teil).“ Es gibt grundsätzlich drei Vari-
anten, wie wir auf Attacken reagieren:
schlucken (annehmen), aggressiv werden
oder ablenken.
Diese entsprechen dem Repertoire, das
wir als Kind zur Verfügung hatten. Wir
konnten uns damals nicht kritisch ausein-
andersetzen mit dem, was uns von Auto-
ritätspersonen entgegengebracht wurde.
Meist haben wir es geglaubt, um nicht
auch noch den Kontakt zu den Eltern zu
verlieren. Wer heute noch die Attacken
schluckt, hat ein schwaches Selbstsein.
Wer aggressiv wird, müsste es eigentlich
an den Richter richten. Und wer sich sei-
nes Richters und dessen Attacken nicht
bewusst ist, richtet die Aggression an
seine Mitmenschen (in direkter oder sub-
tiler Form). Und das bestätigt wieder die
negativen Überzeugungen des Richters.
Wer ablenkt, geht aus dem Kontakt mit
sich - und damit mit allem Wesentlichen.
Coaching-Anlässe
In jedem Fall sind die Attacken das Prob-
lem, nicht das Selbst. Attacken sind das
Mittel des Richters, das Selbst zu schüt-
zen – obwohl sie sich nicht fürsorglich
anfühlen. Der Zweck heiligt hier nicht
die Mittel. Der Richter sieht jedoch die
„Neben“-Wirkungen der Attacken nicht.
Viele dieser Nebenwirkungen führen zu
Coaching-Anlässen:
• Ich möchte mir Kritik nicht mehr so
zu Herzen nehmen (Im Fall von Kritik
setzt der Richter oft noch eins drauf
und übertreibt damit maßlos).
• Ich möchte die Arbeit nach Feierabend
hinter mir lassen können.
• Ich möchte nicht mehr das Gefühl
haben, meinen Kollegen beweisen zu
müssen, dass ich den Job verdient
habe.
• Ich möchte die Nervosität verlieren,
wenn ich vor Gruppen sprechen muss.
Andere Coaching-Anlässe kommen aus
dem Regelwerk des Richters:
• Ich möchte meinen Qualitätsanspruch
reduzieren, nicht mehr so perfektionis-
tisch sein.
• Ich möchte Entscheidungen treffen
können, ohne 100-prozentige Informa-
tionen zu haben.
• Ich möchte Konflikten nicht mehr aus
dem Weg gehen, sondern auch mal je-
mand konfrontieren können.
• Ich möchte mein Selbstbewusstsein
stärken und Selbstzweifel ablegen.
Es ist zwar zunächst nur eine Symptom-
Bekämpfung, aber oft ein wichtiger
Schritt in der Befreiung vom inneren
Richter, diese Attacken zu stoppen. Dabei
haben sich in der Praxis folgende Varian-
ten von Botschaften an den Richter als
am hilfreichsten erwiesen:
1. Die Wahrheit über die Wirkung:
„Wenn
Du mir hier solche Ansagen machst,
kann ich mich nicht mehr konzentrieren.
Dadurch kann ich nicht zeigen, was ich
kann. Lass mich jetzt mich in Ruhe auf
meine Präsentation konzentrieren.“
2. In den Senkel stellen:
„Du blöder Arsch,
du kotzt mich an mit deinen Kommenta-
ren. Halt die Klappe und verpiss dich!“
3. Humor – zum Beispiel durch Übertrei-
bung ins Absurde:
„Ja, genau, ich bin
wahrscheinlich der dümmste Mensch in
ganz Europa. Es wird nicht mehr lang
dauern, bis sie in den Nachrichten über
mich berichten.“
4. Einen Wert dagegen setzen:
„Das ist
nicht fair. Wenn Du mich schon beur-
teilst, erwarte ich eine faire Gerichtsver-
handlung.“
Die wirkungsvollste Variante muss indi-
viduell herausgefunden werden. Bei Vari-
ante vier gilt es herauszufinden, welchen
Wert der Richter als wichtig erachtet. Der
Coachee spürt selbst sehr schnell, ob der
Richter sich damit stoppen lässt. Im Coa-
ching wird das anhand von Attacken-Bei-
spielen aus der Praxis ausprobiert. Gene-
rell lässt sich jedoch sagen, dass die Über-
treibung von Variante drei für Menschen,
die auf Attacken mit Schlucken reagieren,
nicht geeignet ist. Genauso wenig ist Va-
riante zwei für Leute geeignet, die sonst
auf Attacken mit Aggression reagieren.
Wer sich üblicherweise ablenkt, wenn
er angegriffen wird, findet vielleicht Va-
riante eins am hilfreichsten. Der Richter
lässt sich durch dieses Stopp jedoch noch
nicht verändern, sondern nur kurzzeitig
bremsen.
Neu-Briefing des Richters
Für die wirkliche Veränderung ist ein
ernsthafter Dialog mit dem Richter erfor-
derlich. In der Coaching-Praxis hat sich
hier die Stühle-Arbeit aus der Gestalt-
Lehre als nützlich erwiesen. Hierzu stellt
sich der Coachee vor, dass auf dem zwei-
ten Stuhl der Richter sitzt, und spricht zu-
nächst von seinem Stuhl (wahres Selbst,
erwachsene Version) zu dem leeren Stuhl
des Richters. Wenn der Gesprächsbei-
trag fertig ist oder eine Frage gestellt ist,
wechselt der Coachee auf den Stuhl des
Richters und reagiert als Richter auf die
gehörte Aussage oder Frage des Selbst.
Der Coachee wechselt mehrfach, bis alles
besprochen ist und eine neue Koopera-
tion zwischen Selbst und Richter verein-
bart ist.
Für einige Coachees ist es zunächst selt-
sam, in einer Art Rollenspiel zu einem
leeren Stuhl zu sprechen. Auch das
stammt wieder aus der Bewertung des
Richters, wonach „so etwas vor anderen
Leuten peinlich ist“. Wenn der Coach
diese Hürde als häufig benennt, sich
selbst interessiert statt wertend zeigt und
sich davon ansonsten nicht beeinflussen
lässt, finden auch diese Coachees einen
Zugang zu der Methode. Der Stuhl-
wechsel ist wichtig, um die Stimmen
auseinanderzuhalten und sich in jedem
Gesprächsschritt auf die gerade einge-
nommene Rolle zu fokussieren. Wichtig
ist auch, den Coachee davon abzuhalten,
die Reaktionen des anderen Stuhls schon
vorweg erahnen zu wollen. Auch rhetori-
sche Argumentationsschlachten sind eher
wenig hilfreich. Bei jedem Stuhlwechsel
Foto: PathDoc / Shutterstock.com
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