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03/17 PERSONALquarterly
ihrer Dissertation 1996 mit überbetrieblicher Beschäftigung
im Spannungsfeld von Flexibilität und sozialer Sicherheit be-
schäftigt hat, sieht in dem hochprofessionellen international
aufgestellten Fleischgewerbe ganz andere Durchsetzungslü-
cken als im kleinteiligen Gastgewerbe. Dort klagen die Wirte
über den Bürokratieaufwand und die tägliche Höchstarbeits-
dauer. „Es herrscht in dieser Branche auf weiten Strecken
ein Mangel an Professionalität“, beobachtet die Wissenschaft-
lerin. Doch in beiden Branchen gilt: Die Zahl der sozialver-
sicherungspflichtigen Beschäftigten ist seit Einführung des
Mindestlohns gestiegen. „Der Arbeitsmarkt verkraftet den
Mindestlohn, die Katastrophenszenarien der Gegner sind
nicht eingetreten.“ Und: „Die Unternehmen schließen Frieden
mit einem Mindestlohn, wenn sie sich darauf verlassen kön-
nen, dass auch die Konkurrenz ihn einhält.“ Als Mitglied der
Mindestlohnkommission – die Gewerkschaften haben sie als
beratende Wissenschaftlerin vorgeschlagen – vertritt Clau-
dia Weinkopf den Anstieg im Januar 2017 von 8,50 auf 8,84
Euro mit: „Die Erhöhung ist nicht vom Himmel gefallen.“ Er
ergibt sich aus dem Lohnanstieg für An- und Ungelernte in
Ost und West. Die Volkswirtin bestreitet nicht, dass Unterneh-
men, die von Dumpinglöhnen lebten, Pleite gehen, aber „dann
verschwinden Firmen vom Markt, nicht zwangsläufig auch
Arbeitsplätze“. Eine generelle Aussage über Beschäftigungsef-
fekte sei bei der aktuell guten Konjunktur schwierig – negativ
wie positiv.
Lobbygruppen entscheiden über Lohnanpassung
Kein Forscher erhofft sie: die nächste Rezession. Aber die Ef-
fekte des Mindestlohns wird man wissenschaftlich danach
besser beurteilen können. Professor Oliver Holtemöller er-
wartet langfristig moderat negative Beschäftigungseffekte und
nennt Gründe für das derzeitige Fehlen derselben: „Unterneh-
men konnten die Kostensteigerungen wegen der guten kon-
Dr. Claudia Weinkopf, Stellvertretende Geschäftsführende IAQ-Direktorin, und Prof. Dr.
Oliver Holtemöller, Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle
junkturellen Dynamik über Preiserhöhungen weitergeben.“
Der Leiter der Abteilung Makroökonomik am Leibniz-Institut
für Wirtschaftsforschung Halle, der das Fach auch bei den
Volkswirten an der Martin-Luther-Universität Halle-Witten-
berg lehrt, beobachtet überdurchschnittliche Preissteige-
rungen bei nichtmedizinischen Gesundheitsdiensten, bei der
Personenbeförderung, bei Zeitschriften und Zeitungen sowie
bei der Reinigung und Reparatur von Kleidung. So konnte der
Lohnanstieg abgefedert werden. Nach Regionen betrachtet ist
der Anstieg der Effektivlöhne in den ostdeutschen Bundeslän-
dern besonders hoch. Etwa 25 Prozent der Beschäftigten sind
hier vomMindestlohn betroffen. Auch weil die Tarifbindung in
Ostdeutschland nicht so ausgeprägt ist. Von der Erhöhung der
Lohnuntergrenze um vier Prozent von 8,50 Euro auf 8,84 Euro
im Januar sind die Unternehmen im Osten also auch stärker
betroffen als in den westlichen Bundesländern.
Bestätigt fühlt sich Professor Holtemöller durch die Ent-
scheidung der Mindestlohnkommission aber in einem ganz
anderen Punkt: „Die Anpassungen werden immer nach oben
gehen, die Erhöhung vom Januar liegt über der Zunahme
von Produktivität und Preisen.“ Das sei eine Folge der po-
litisch motivierten Besetzung. „Es treffen mit Arbeitgebern
und Arbeitnehmern zwei Lobbygruppen aufeinander, die
Nichterwerbstätigen sind nicht vertreten“, stellt der Makro-
ökonom fest. Das Vorbild, die britische Low Pay Commission,
sei weniger von Sozialpartnern dominiert. Dieser Konstrukti-
onsfehler passt seines Erachtens dazu, dass Befürworter des
Mindestlohns diesen auch als Mittel zur Armutsbekämpfung
bewerben. „Der Mindestlohn ist eine verteilungspolitische Ne-
belkerze“, sagt Holtemöller. „Denn vom Mindestlohn sind vor
allem gering Qualifizierte sowie geringfügig Beschäftigte und
Teilzeitbeschäftigte betroffen, die auch mit dem Mindestlohn
nicht von ihren Lohneinkünften leben können. Besser wäre es,
die Ursachen von Armut zu bekämpfen.“
© MINDESTLOHNKOMMISSION