PERSONALquarterly 3/2017 - page 54

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_EVIDENZ ÜBER DEN TELLERRAND
PERSONALquarterly 03/17
I
n öffentlichen Debatten wird von einigen die These ver-
treten, dass Deutschland auf Kosten der christlichen
Religionen islamisiert werde. Ein Blick auf die Zuwande-
rungsgeschichte und die Daten der Gegenwart lässt einen
anderen Schluss zu: Deutschland hatte im Jahr 2015 rund 82,2
Millionen Einwohner. Seit 2011 hat sich die Zahl kontinuierlich
erhöht. Insbesondere von 2014 auf 2015 war ein Anstieg von
fast einer Million Personen zu verzeichnen. Das Bevölkerungs-
wachstum ist ausschließlich auf Wanderungsgewinne zurück-
zuführen. Vor allem das Jahr 2015 war neben dem Zuzug von
EU-Bürgern durch die Einreise zahlreicher Geflüchteter charak-
terisiert, von denen viele aus muslimisch geprägten Ländern
kamen, so etwa aus Afghanistan, dem Irak oder Syrien.
Die Zuwanderung (auch) aus muslimisch geprägten Ländern
in die Bundesrepublik Deutschland hat jedoch eine sehr viel
längere Geschichte. Sie reicht bis in die 1960er-Jahre zurück,
als Anwerbeabkommen mit der Türkei (1961), Marokko (1963),
Tunesien (1965) und dem ehemaligen Jugoslawien (1968), da-
mals ein Vielvölkerstaat mit einem nicht unerheblichen mus-
limischen Bevölkerungsanteil, geschlossen wurden. Viele der
Angeworbenen sind in Deutschland geblieben, holten später
ihre Familienangehörigen nach oder haben hier Familien ge-
gründet. Weiterhin erfolgte Zuwanderung zu Ausbildungs- oder
Arbeitszwecken. Aktuell haben nach Angaben des Mikrozen-
sus, einer jährlichen Umfrage des Statistischen Bundesamts,
21% der Bevölkerung einen Migrationshintergrund.
Die Zahl der Muslime geht aus den Daten des Statistischen
Bundesamts nicht hervor. Die Religionszugehörigkeit wird im
Mikrozensus nicht erhoben. Im Zensus von 2011 war die Frage
nach der Religionszugehörigkeit lediglich für Angehörige öf-
fentlich-rechtlicher Religionsgemeinschaften verpflichtend, da-
runter vor allem Mitglieder christlicher Kirchen. Bei Personen,
die keiner oder einer anderen Religion angehören, erfolgte die
Abfrage auf freiwilliger Basis – gut die Hälfte verzichtete darauf.
Auch über die islamischen Gemeinden kann die Zahl der Mus-
lime nicht erfragt werden. Im Unterschied zu den christlichen
Kirchen kennt der Islam keine zentrale Organisationsstruktur
und führt keine verbindlichen Mitgliederlisten.
Um das Informationsdefizit zu schließen und die öffentliche
Diskussion zu versachlichen, hat das Forschungszentrum des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der
Deutschen Islam Konferenz eine Hochrechnung über die Zahl
der in Deutschland lebenden Muslime durchgeführt. Die Hoch-
rechnung zum Stand 31.12.2015 wurde auf Basis verschiedener
Datenquellen realisiert und konzentriert sich auf Menschen,
die aus muslimisch geprägten Herkunftsländern stammen. Ins-
gesamt wurden 47 Länder berücksichtigt. Ergebnis ist, dass in
Deutschland zwischen 4,4 und 4,7MillionenMuslime leben. Ihr
Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt zwischen 5,4 und 5,7%.
Die in zwei Schritten vorgenommene Hochrechnung verdeut-
licht, dass viele Muslime erst kürzlich nach Deutschland gekom-
men sind. Der Anteil neu zugewanderter Muslime beträgt 27,3%.
Das muslimische Leben ist dadurch vielfältiger geworden. Wie
viele der Muslime gläubig sind, kann durch die Hochrechnung
nicht beantwortet werden. Die deutlich größte Gruppe bilden bis
heute türkeistämmige Muslime. Jeder zweite muslimische Reli-
gionsangehörige stammt mittlerweile jedoch aus einem anderen
Herkunftsland, viele davon aus dem Nahen Osten. 2016 und im
1. Quartal 2017 hat sich die Dynamik der Zuwanderung Geflüch-
teter, die vor allem das Ausnahmejahr 2015 kennzeichnet, nicht
fortgesetzt. Es ist daher davon auszugehen, dass auch die musli-
mische Bevölkerungsgruppe nicht weiter angewachsen ist.
Zahlen widerlegen sprunghaften Anstieg
Dr. Anja Stichs,
wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Muslime in Deutschland zum Stand 31.12.2015
Anzahl, Anteil an der Gesamtbevölkerung und Verteilung auf Herkunftsregionen
Türkei
Keine/eine andere
Religion: ca. 77,7 Mio.
Muslime: ca. 4,5 Mio.
Iran
Naher Osten
SO-Europa
S-/SO-Asien
Nordafrika
südl. Afrika
ZA/GUS
Quelle: BAMF-Hochrechnung zum Stand 31.12.2015, Alle Angaben in Prozent
50,6
17,1
11,5
8,2
5,8
2,5
2,4
94,5
5,5
1,9
1...,44,45,46,47,48,49,50,51,52,53 55,56
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