wirtschaft und weiterbildung 1/2019 - page 23

wirtschaft + weiterbildung
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Menschen einem Avatar anvertrauten,
mit dem Hinweis, dass es nach seinen
Beobachtungen den Menschen leichter
falle, gegenüber einer Maschine scham-
besetzte Gefühle preiszugeben als ge-
genüber einem „echten“ Menschen. Die
möglichen Hemmungen, die man gegen-
über einem Therapeuten haben könne,
existierten im Dialog mit einem Roboter
überhaupt nicht. Im US-Magazin „The
Atlantic“ (11/2018) betonte Gratch, dass
Ratsuchende gegenüber einem Avatar
nachweislich mehr Trauer zum Ausdruck
brächten, wenn sie deprimiert seien, als
in einem klassischen Vier-Augen-Thera-
piegespräch.
Die Wissenschaftler der Simcoach-Platt-
form halten es für ganz entscheidend,
dass der Avatar mit einer menschlichen
Stimme zu den Ratsuchenden spricht.
Eine Stimme signalisiere seit Tausenden
von Jahren „menschliche Nähe“, sodass
es schon allein wegen des Einsatzes einer
(auf Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft
programmierten) Stimme nicht verwun-
derlich sei, dass Avatare für empathisch
gehalten werden – wobei Empathie im
Sinne eines umfassenden, mitfühlenden
Verstehens die wichtigste Qualität in
einem Coaching-Gespräch und Grund-
lage für eine persönliche Veränderung
sein dürfte.
Chatbots als
Psychotherapeuten
Ein weiteres Vorzeigeprodukt in Sachen
„Coaching mit künstlicher Intelligenz“
heißt „Karim“ und stammt von der Sili-
con-Valley-Firma „X2AI“. Es ist eine Art
„Seelsorge-App“, die in den Flüchtlings-
camps im Libanon die Psychotherapeuten
ersetzt. Viele der Menschen dort sind
traumatisiert. Per Smartphone können
Flüchtlinge mit einem Chatbot kommu-
nizieren, der helfen kann. Karim versteht
mehrere Sprachen und erkennt sogar
Sarkasmus. Er antwortet nach Mustern,
die ihm Psychologen beigebracht haben
und entwickelt sie gezielt weiter, wenn er
merkt, welche Interventionen den Betrof-
fenen guttun.
Laut DBVC-Chef Christopher Rauen gel-
ten „Simcoach“ und „Karim“ unter Wis-
senschaftlern als Durchbruch. Den Ratsu-
chenden sei klar, dass sie nur mit einem
Roboter sprächen und trotzdem gebe es
große Erfolge bei der Früherkennung und
dem Behandeln von posttraumatischen
Belastungsstörungen und Depressionen.
„Wenn das in der Therapie funktioniert,
wie weit sind wir Coachs dann noch von
dieser Innovation entfernt“, fragte sich
Rauen und rief seinem Publikum zu:
„Wenn Sie glauben, dass das alles den
Bereich des Coachings unberührt lassen
wird, dann sind Sie naiv!“
Worauf muss sich ein
Business Coach vorbereiten?
Dr. Thomas Bachmann, Partner des
Coach-Ausbilders „Artop“ in Berlin, ar-
gumentierte in der Zeitschrift „Organi-
sationsberatung, Supervision, Coaching“
(3/2018) in dieselbe Richtung: „Coachs
müssen sich entscheiden: Bieten sie eine
hochwertige, mit vielen Sinnen erfahr-
bare, exklusive, hochprofessionelle, indi-
viduelle und persönliche Begegnung im
Coaching an oder steigen sie in die Welt
des Streamlining und der Austauschbar-
keit ein? Dazwischen scheint auf Dauer
kaum ein Überleben möglich ... Für die
Zukunft des Coachings stellt sich sehr
konkret die Frage, was sich digitalisieren
lässt und zu welchem Preis.“
Dr. Wolfgang Looss, Darmstadt, der
Mitbegründer der deutschen Coaching-
Szene, zeigte sich nicht überrascht
davon, dass jemand, der unter Coaching
„Instruktion“, „Befähigung“ und „Rat-
schlag“ versteht, bald durch künstliche
Intelligenz ersetzt werden könnte. Dass
aber ein mit künstlicher Intelligenz be-
R
stückter Avatar mit einem großen Reper-
toire an Software-Routinen empathisch
wirken könne, stimme ihn nachdenklich.
Doch Empathie sei nicht alles. Ein Coach
müsse künftig klarmachen, dass er auf
einem Niveau arbeite, dass beim Coachee
„Weisheit“ und eine reife „Sicht auf die
Welt“ entstehen lasse. Es komme wohl in
Zukunft auch darauf an, gegenüber den
Einkäufern mehr denn je mit seinen Er-
fahrungen zu punkten. „Da bekommt das
Anciennitätsprinzip, die Bevorzugung
der Dienstältesten bei der Beförderung
von Beamten, eine ganz neue Aktualität“,
scherzte Looss. Nicht sofort, aber bald
werde sich jeder Coach fragen müssen,
wie er sein Coaching-Geschäft umbaue.
Die künstliche Intelligenz zwinge jeden,
seine Coaching-Leistungen auszudiffe-
renzieren. Am wichtigsten für eine erfolg-
reiche Arbeit als Coach sei es aber wie
bislang auch, dass ein Coach „sich selbst
durchgearbeitet“ habe.
Prof. Dr. Siegfried Greif, emeritierter Or-
ganisationspsychologe an der Universi-
tät Osnabrück, äußerte auf dem DBVC
Coaching-Kongress Zweifel daran, dass
ein Manager jemals einen KI-gesteuerten
Avatar als vollwertigen Gesprächspartner
akzeptieren werde. Greif outete sich als
Fan der „Blended-Ansätze“. Er forderte
Coachs dazu auf, künstliche Intelligenz
als „zusätzliches Werkzeug“ zu nutzen,
um Verhaltensmuster schneller zu erken-
nen und sich mehrere Interventionen zur
Auswahl vorschlagen zu lassen. Der Koo-
peration von Mensch und Maschine solle
die Zukunft gehören.
Gudrun Porath/Martin Pichler
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