messen und kongresse
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wirtschaft + weiterbildung
09_2016
Breithaupt:
Richtig. Deshalb wäre es
wünschenswert, dass der Staat hier einen
Bildungsauftrag sieht oder eine Landesre-
gierung sagt, da ist Potenzial für die Zu-
kunft des Lernens – und dann investiert.
Da sehe ich die größte Chance, dass die
die Daten nicht missbrauchen werden.
Ansonsten ist die Gefahr in der Tat groß.
Eine positive Entwicklung könnte auch
sein, wenn eine Plattform wie Wikipedia
die Sache angeht. Da weiß jeder, der mit-
macht, ziemlich genau, wo seine Daten
landen. Außerdem würde es ohne kom-
merzielles Interesse der Allgemeinheit
zugutekommen.
Sie sagten, damit kann man nicht nur
Sprachen, sondern auch viele andere
Dinge lernen. Wo liegen da mögliche
Grenzen?
Breithaupt:
Der Computer kann Texte
oder historische Konstellationen nicht
wirklich interpretieren wie wir Men-
schen. Er kann höchstens dabei helfen,
die eigene Deutung, die man bereits an-
gefangen hat, ein bisschen zu verdichten
und Beweise zu liefern. Philosophische
Fragen werden eher oberflächlich blei-
ben, aber ich kann mir schon vorstellen,
dass der Computer auch abfragen kann,
ob man einen Text verstanden hat. Das
funktioniert sicher gut bei Bestsellern wie
Harry Potter, die viele Leser haben und
für die der Computer viele Vergleichsda-
ten ansammeln kann.
In dem Moment, in dem wir seltenere
Konstellationen haben, geht das sicher-
lich nicht. In Amerika werden ähnliche
Programme zum Beispiel für die Auf-
nahmetests der Universitäten genutzt,
in denen Studenten einen Essay abge-
ben. Da vergibt das System automatisch
Punkte für Dinge wie interessante Voka-
beln, Grammatik oder einen guten Fluss
der Gedanken. Da können Computer be-
reits eine gute Einschätzung geben.
Sie sagten, dass uns der Lehrer dann
immer begleitet. Wir sehen das ja schon
bei anderen Dingen wie der Quantified-
Self-Bewegung, wenn Menschen ständig
freiwillig ihre Gesundheit überprüfen.
Droht die Diktatur des Lifelong Learning
– und zwar rund um die Uhr?
Breithaupt:
Ja, das ist sicher nicht ganz
von der Hand zu weisen. Wir können
immer weniger abschalten und das kann
problematische Folgen haben – wie Em-
pathieverluste. Wir erleben einen Trend
dahin gehend, dass Menschen andere
Menschen nicht mehr so wichtig fin-
den. Das hat eine Kollegin von mir, Sara
Konrath, anhand von Persönlichkeits-
tests innerhalb der letzten 30 Jahre aus-
gewertet. Anscheinend ist es gerade die
Digitalisierung und Selbstvermarktung,
die Selfie-Kultur, die dabei eine wichtige
Rolle spielt. Das macht mir große Sorgen.
Das lässt sich ein bisschen ausgleichen,
indem wir soziales Lernen in diese digi-
talen Lernsysteme reinbringen, indem
sich beim Lernen mehrere Menschen
miteinander vernetzen und voneinander
lernen. Aber soziales Lernen und Verant-
wortung für Gruppen ist nicht unbedingt
das gleiche wie Empathie. Deshalb haben
die Schulen und sonstige Weiterbildungs-
einrichtung künftig die wichtige Funk-
tion, dass sie soziale Kompetenzen noch
mehr ins Zentrum stellen müssen. Schu-
len werden nicht überflüssig, sondern
werden sich noch mehr auf eine wirklich
attraktive Aufgabe ausrichten, nämlich
das soziale Lernen statt dem Pauken von
Fakten. Bei allen Warnungen vor Empa-
thieverlust sollten wir allerdings nicht
glauben, dass Empathie immer gut ist.
Vielmehr kann zu viel Empathie auch im
Extrem zum Selbstverlust oder zu Sadis-
mus führen. Mein kommendes Buch, das
im Winter herauskommt, beschäftigt sich
mit diesen dunklen Seiten der Empathie.
Empathie wird durch ein optisches
Gegenüber und Augenkontakt gefördert.
Inwiefern könnte die Technik vielleicht
auch ein menschliches Gesicht
imitieren?
Breithaupt:
Das habe ich auch mit Kolle-
gen diskutiert und hin und her überlegt.
Es ist natürlich technisch kein Problem,
sich das mit Gesicht vorzustellen – und
zwar auch mit einem menschenarti-
R
Zur Person.
Prof. Dr. Fritz Breithaupt ist
Leiter des Department of Germanic Stu-
dies an der Indiana University Blooming-
ton (USA). Er schreibt regelmäßig für „Die
Zeit“ und das „Philosophie Magazin“. Seit
2006 gestaltet er die Kolumne „Profes-
soren und ihre Neurosen“ für „Zeit Cam-
pus“. In Forschung und Lehre beschäftigt
er sich mit Auslösern und Blockaden
von Empathie (siehe zum Beispiel seine
Bücher „Kulturen der Empathie“ oder
„Kultur der Ausrede. Eine Erzähltheorie”).
Derzeit arbeitet er an dem Buch „Die
dunklen Seiten der Empathie“ und untersucht in diesem
Zusammenhang, welche negativen Auswirkungen Empathie
haben kann – wie etwa Selbstverlust oder empathischer
Sadismus, wenn jemand einen anderen quält, um dessen
Gefühle besser nachvollziehen zu können. Weitere Schwer-
punkte seiner Arbeit sind der Zusammenhang von narrati-
vem Denken und kulturellen Praktiken sowie die Literatur
und Philosophie der Goethe-Zeit. Der Professor hat viele
Auszeichnungen für seine Arbeit erhalten, darunter ein
Alexander-von-Humboldt-Forschungsstipendium und eine
Ehrung der Indiana University, wo er als Direktor des West
European Studies Institutes tätig war.
Experte für Empathie