Wirtschaft und Weiterbildung 09/2016 - page 64

grundls grundgesetz
Boris Grundl
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wirtschaft + weiterbildung
09_2016
„Arbeiten Sie lieber allein oder im Team?“, was
antworten Sie, wenn Sie sich um eine Stelle
bewerben, bei der die Ausschreibung ausdrücklich
„Teamfähigkeit“ verlangt? Und was sagen Sie, wenn
Sie den Job wollen aber eigentlich doch lieber in
einem Einzelzimmer rumwurschteln? Der Versuch,
einer Ablehnung durch seine Mitmenschen durch
„erwünschtes Verhalten“ zu entgehen, wird „soziale
Erwünschtheit“ genannt.
Wir hören heute viel von „Disruption“. Disruption
bedeutet eine Denkradikalität, die rein gar nichts
mit sozial Erwünschtem zu tun hat. Wir lesen von
Agilität. Agilität bedeutet eine unabhängige geis­
tige Selbstständigkeit, die nie ein Ziel des sozial
Erwünschten war.
Und das ist der Konflikt: Die neuen Worte werden
gepredigt, doch das Herz sehnt sich nach dem Alt­
bekannten. Vielfältigkeit, Agilität, Authentizität oder
Disruption fordert man von anderen, möchte selbst
aber verschont bleiben. Es befremdet mich immer
sehr, wenn mir Entscheidungsträger in Gesprächen
signalisieren: Die anderen müssten mal dies oder
das tun. Also: Wasch mich, aber mach mich nicht
nass. Oder treffender: Wasch uns, aber mach mich
nicht nass. Besonders verräterisch ist der Satzan­
fang: „Wir müssen endlich ...!“ Aufrufe, Appelle, The­
sen oder Gesprächspapiere. Als ob Appelle irgend­
wie in der Lage wären, eine Unternehmenskultur zu
verändern.
„Erziehen heißt vorleben. Alles andere ist höchstens
Dressur“, soll der begnadete Psychiater Oswald
Bumke gesagt haben. „Eine Firmenkultur zu ändern,
heißt vorleben. Alles andere ist höchstens Dres­
sur“, möchte ich hinterherrufen. Stellen Sie sich
bitte einmal folgende Szene vor: Sie erreichen am
Abend Ihr Wohnviertel. Auf einmal verschwindet
alles, was noch irgendeinem Kreditinstitut gehört.
Da kann sich so manches Häuserdach allein kaum
noch in der Luft halten und kracht auf die Erde. Und
manches Traumauto löst sich einfach auf. Alles, was
übrig bleibt, nennt man Substanz. Der Schein ist
weg. Die Maske ist gefallen.
Mit unterschiedlichen Diagnosetools versuchen
Personaler die menschliche Realität hinter der
Maske hervorzuholen. Als Einstellungstest oder
Potenzialentwicklungstest. Als ob deren Fragen
nicht ziemlich durchschaubar wären. Gerade die
Intelligenteren kommen schnell auf den Trichter und
antworten dann auch entsprechend. Danach geht
ihr Spiel mit der sozialen Erwünschtheit einfach wei­
ter. Es hat ja funktioniert. Die gewünschte, authen­
tisch herbeigeführte, agile Disruption bleibt aus.
Heißt das, dass die Tests nichts taugen? Überhaupt
nicht! Doch sie wirken bei jenen am besten, die sich
öffnen und verletzlich machen. Und das sind leider
nicht so viele.
Kennen Sie Ihre inneren Konflikte mit der
sozialen Erwünschtheit? Es bedarf großen
Mutes, sich so zu zeigen, wie man ist.
Doch das wird belohnt. Vielleicht sind Sie
dann weniger beliebt, jedoch sicher mehr
respektiert. Und Sie verschwenden keine
Energie im Vorspiegeln falscher Tatsachen. Konse­
quent zu Ende gedacht, findet endlich jeder einen
Platz, der besser zu ihm passt. Erst jetzt klappt es
auch mit notwendigen Veränderungen. Denn Agilität
und Disruption funktionieren nur mit Menschen, die
dies leben können und wollen. Nicht authentisch
erscheinen, sondern authentisch sein. So wird ein
Schuh daraus.
Paragraf 48
Weniger scheinen,
mehr sein!
Boris Grundl ist Managementtrainer und Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden.
Grundl gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung). Sein neues Buch heißt: „Mach mich glücklich. Wie Sie das bekommen,
was jeder haben will“ (Econ Verlag 2014, 246 Seiten, 18 Euro). Boris Grundl beweist, wie leicht und schnell das Verschieben von Verantwortung in eine
zerstörerische Sackgasse führt und die persönliche Weiterentwicklung und damit Glück verhindert.
Potenzialtests funktionieren bei jenen
am besten, die sich öffnen. Doch das
sind leider nicht so viele.
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