menschen
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wirtschaft + weiterbildung
09_2015
beanspruchen. Wobei – wenn ich hier gerade vom Balkon
schaue, sehe ich nebenan die Gerüstbauer. Es gibt also noch ei-
nige körperlich sehr fordernde Berufe, aber sie sind nicht mehr
die Regel, so wie das vor vielen Jahrzehnten noch der Fall war.
Aber die Frage ist doch: Laugt uns die Art und Weise, die unter-
schiedlichen Arbeiten, die wir jetzt haben, die ja hauptsächlich
geistig sind, nicht ebenso sehr aus wie die körperliche Arbeit?
Wobei die körperliche Arbeit noch den Vorteil hatte, dass man
sich wirklich verausgabt hat – also auch körperlich verausgabt
hat. Heute sitzen die Leute stundenlang im Büro am Computer.
Der Kopf qualmt und im Idealfall gehen sie danach joggen oder
ins Fitnessstudio, um ihren Ausgleich zu finden. Das war bei
den körperlich anstrengenden Arbeiten schon anders, da hatte
man noch gleichzeitig dieses Ventil.
Ich habe gestern einen interessanten Bericht gehört im Radio,
dass die psychische Krankheit quasi der neue Rücken ist. Also
dieses frühere „Ich habe Rücken“ ist jetzt die Psyche und das
ist ein Riesenproblem, weil es immer mehr Menschen betrifft,
es sind aber auch mehr geworden, die darüber jetzt endlich
reden. Also das hat ganz viele Facetten und ich glaube, das ist
ein Problem unserer Zeit. Das hat auch mit dieser digitalen In-
formationsflut, von der wir es eben hatten, zu tun. Das ist alles
einfach zu viel für uns.
Wir sind doch ständig überfordert von Informationen, von
Reizen, von Schnelligkeit. Es gibt überhaupt nicht mehr die-
sen Puffer der Zeit. Wir sind zum Beispiel innerhalb von zwei
Stunden auf Mallorca. Oder ich fliege nach Asien und bin in
zehn Stunden in Bangkok. Das war früher eine Schiffsreise von
mehreren Wochen, in denen die Psyche Zeit hatte, sich darauf
einzulassen: Die Umgebung änderte sich, das Wetter änderte
sich, alles hat mich langsam darauf vorbereitet. Heute steige
ich ein und wenig später in einer anderen Kulturzone wieder
aus. Das überfordert die Menschen – plus dieser Druck: Mein
persönlicher Output muss groß sein, sonst bin ich nicht akzep-
tierter Bestandteil der Gesellschaft. Ich finde das dramatisch.
In all diesem Strudel wäre es doch gar nicht so verkehrt, wenn
man sich seine persönliche Komfortzone einrichtet?
von Wilmsdorff:
Was ist eine Komfortzone? Ist es diese Zone,
in der ich sage: Also eigentlich würde ich mich gern verändern
und eigentlich habe ich die und die Bedürfnisse, ich trau mich
nur nicht, sie umzusetzen, aus Angst vor den Reaktionen an-
derer Menschen, vor meinen Kollegen, vor meinem Partner.
Also lasse ich alles besser so, wie es ist. So quasi nach diesem
Einstein-Satz: Der Mensch hofft, dass sich etwas verändert,
macht im Endeffekt dafür aber nichts. Das ist für mich keine
Komfortzone, sondern eine Verhaltenszone. Und dann gibt es
diese Zone, wo man sagt: Ich bin mit meinem Umfeld und der
Art und Weise, wie ich lebe, im Großen und Ganzen zufrie-
den. Das ist eine Komfortzone, die ich super finde. Die beiden
muss man unterscheiden. Also ich zum Beispiel lebe in mei-
ner persönlichen Komfortzone: Ich mache beruflich das, was
ich immer machen wollte. Ich habe eine irrsinnig glückliche
Partnerschaft, weil ich immer Wert darauf gelegt habe, dass
meine Bedürfnisse mit denen meines Partners harmonieren.
Und wenn man merkt, das funktioniert nicht, dass man dann
auch die Kraft hat, für sich zu sagen, nee, das hat keinen Sinn,
da gehe ich einen Kompromiss ein, an dem ich zerbrechen
werde, mit dem wir beide nicht glücklich werden. Das habe
ich für mich in den letzten Jahren gelernt, dass das für mich
kein Weg ist. Von daher lebe ich jetzt in einer Komfortzone, wo
alles stimmt. Die wünsche ich jedem. Aber wie gesagt, diese
Komfortzone, wo ich mich aus einer Angst heraus quasi ducke,
die finde ich nicht erstrebenswert.
Wäre es für Sie eine Herausforderung, sich einmal für vier
Wochen als Führungskraft zu versuchen?
von Wilmsdorff:
Ja, natürlich. Das finde ich großartig.
Was glauben Sie: Ist diese Aufgabe innerhalb eines Konzerns
oder bei einem Mittelständler leichter zu erfüllen?
von Wilmsdorff:
Hm, ich glaube, es gibt sehr viele Schwie-
rigkeiten, die auch bei unterschiedlicher Unternehmensgröße
gleichbleibend sind. Aber einen echten Konzern zu leiten –
oder vielleicht auch ein hohes Amt in der Politik auszuüben
– das würde mich schon irrsinnig reizen. Ich glaube, dass die
meisten Menschen ein völlig falsches Bild davon haben, wie so
ein Job aussieht, wie diese Belastung aussieht und was man als
Mensch für Eigenschaften braucht, um sich für einen solchen
Weg zu entscheiden. Seien wir doch mal ehrlich, wenn wir
uns Konzernchefs von Topunternehmen angucken, nehmen
wir mal DAX-Unternehmen, dann standen die vor Jahren mal
vor der grundlegenden Entscheidung, will ich Karriere ma-
chen oder möchte ich meine persönliche Komfortzone haben,
wo ich glücklich bin mit meiner Frau und meiner Familie und
einen netten Job habe, der mir dies alles ermöglicht? Wenn
man so ein großes Unternehmen, einen wirklich großen Kon-
zern, leitet, geht das meiner Überzeugung nach nicht ohne
ganz viel Verzicht im privaten Bereich. Und das mal eine Zeit
R
Tiertransport mit Reporter.
Für die RTL-Doku-Reihe „Das Jenke-
Experiment“ kletterte Wilmsdorff in einen Ferkeltransporter. Als
der fertig beladen war und von Holland nach Ostdeutschland
fuhr, stapelten sich 1.800 Tiere auf vier Ebenen, die jeweils
nur rund 50 Zentimeter hoch waren. Der Reporter lag auf dem
Rücken und wurde in jeder Kurve herumgeschleudert.
Foto: RTL/Willi Weber