wirtschaft + weiterbildung
09_2015
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dann birgt das noch zusätzlich die Gefahr einer Abhängigkeit.
Das kann man natürlich auch aus der Distanz beschreiben,
aber für mich ist es weitaus interessanter, noch einen Schritt
weiterzugehen: Zu sagen, o.k., ich kann das als Beobachter er-
zählen, ich kann eine Reportage darüber machen oder ich kann
versuchen, selbst einzutauchen, bis zu einem gewissen Grad,
um es noch intensiver beschreiben zu können, weil ich es am
eigenen Leibe erfahren habe. Das ist mein Berufsanspruch:
Wenn ich mich über etwas auslasse, dann will ich nicht nur
von etwas erzählen, was ich aus Büchern kenne oder was an-
dere Menschen erlebt haben, sondern ich möchte halt einen
Schritt weiter gehen.
Bei Ihren Selbstversuchen treibt Sie nicht nur die Neugierde,
sie wollen auch aufklären ...
von Wilmsdorff:
Ja, das ist mein persönlicher Anspruch an den
Beruf des Journalisten. Privat hätte ich die Neugier in dieser
Intensität nicht. Also nur um zu erfahren, wie fühlt sich etwas
an, was hat es damit auf sich, da würde ich nicht gleich einen
Selbstversuch dazu starten. Aber mein journalistischer Ehrgeiz
ist, wenn ich über etwas berichte, dann möchte ich das so
intensiv und authentisch wie nur möglich machen. Da muss
man wirklich Privatleben und Berufsleben bei mir trennen.
Verglichen mit Ihren Extremeinsätzen wirkt der Arbeitsalltag
eines durchschnittlichen Deutschen doch wie ein Ponyhof?
von Wilmsdorff:
Nein, das finde ich gar nicht. Ich finde, das
lässt sich wunderbar eins zu eins übersetzen. Ich berichte von
dem Extrem aber dieses Extrem ist – und das gilt für wirklich
jede Extremsituation, in die ich mich bislang begeben habe
– immer übertragbar auf den Alltag. Denn im Endeffekt geht
es immer um Herausforderungen. Es geht darum, Ängste zu
überwinden, die man überwinden möchte – abgesehen von
den Ängsten, die man braucht, weil sie wichtig sind fürs Über-
leben – die sollte man unberührt lassen. Es geht um die Ängste
in unserem Alltag, die uns an der Persönlichkeitsentfaltung
hindern, die uns daran hindern, erfolgreicher zu sein, noch
engagierter zu werden.
Ich mache das halt im Extrem: Ich gehe auf ein Flüchtlings-
boot und begebe mich auf eine Reise, von der ich nicht weiß,
wo sie enden wird. Das lässt sich doch auf den Alltag, den
Arbeitsalltag wunderbar übertragen: Also ich stelle mich einer
Herausforderung, ohne zu wissen, wohin mich das führt. So.
Und da gibt es sehr viele Menschen, die sagen, nee, ich bleibe
lieber in meiner Komfortzone. Von daher sehe ich das gar nicht
so unterschiedlich.
Der Arbeitsalltag hat natürlich Höhen und Tiefen und auch
seine Fallen. Was meinen Sie: Ist er härter geworden?
Die körperlichen Belastungen haben ja eher abgenommen …
von Wilmsdorff:
Ja, die rein körperliche Arbeit. Wir haben jetzt
nicht mehr so viele Berufe, die hauptsächlich die Muskelkraft
Buchtipp.
Von Wilmsdorffs erstes Buch
„Brot kann schimmeln, was kannst Du?“
beleuchtet den Arbeitsmarkt kritisch. Sein
zweites Buch („Wer wagt, gewinnt“) erzählt
vom Spaß, Grenzen zu überschreiten.
Jenke von Wilmsdorff.
Der Journalist sagt:
„Ich bin ein irrsinnig neugieriger Mensch.“
Die Reportagen, für die er bekannt wurde,
zeigen, dass er auch sehr nachdenklich
und vor allem sehr mutig sein kann.
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