personalmagazin 2/2016 - page 10

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SZENE
_VW-SKANDAL
personalmagazin 02/16
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an
Telekom-Datenskandal, bei dem Kunden
und Arbeitnehmer bespitzelt wurden
und der 2009 aufgedeckt wurde.
Dem Soziologen geht es nicht um mo-
ralische Kategorien, wenn er beschreibt:
„Großzügige Gesetzesinterpretationen
wie kleine Regelabweichungen sind für
Organisationen gleichermaßen funkti-
onal und werden daher geduldet.“ Das
Gegenteil – Dienst nach Vorschrift – sei
für Unternehmen weitaus gefährlicher.
Vielmehr gehe es um das Managen der
brauchbaren Illegalität, um das Auslo-
ten von innovativen Wegen und der Aus-
nahmen von der Regel. Aber genau dort
fehle, so Kühl, „den Führungskräften die
Expertise“.
Korpsgeist und Tabus: Strukturen in
Großunternehmen ähneln sich
Auch Organisationsentwicklerin Jut-
ta Rump bestätigt aus ihrer Forschung
und Praxisbeobachtung, dass sich die
Strukturen von Volkswagen und an-
deren Großunternehmen ähneln: „In
Konzernen herrschen Hierarchien und
Hierarchiegläubigkeit.“ In der Konkur-
renz von gesetzlichen Bestimmungen
und Kostendruck, allgemeinen Normen
und Leistungszielen kann das Unrechts-
bewusstsein bei Führungskräften und
Mitarbeitern sinken. „Da braucht es kei-
ne Angstkultur“, sagt die Professorin an
der Hochschule Ludwigshafen. „Pragma-
tik und Loyalität erzeugen ein Alle-im-
selben-Boot-Gefühl, ein gemeinsames
Tabu verhindert das Ausplaudern des
Regelverstoßes.“ Dieser ungute Zusam-
menhalt entsteht unter einer homogenen
Führung besonders leicht. Jutta Rump
nennt einen Ausweg: „Diversität mindert
das Risiko von Regelverstößen eher als
ein Team aus Führungskräften, die alle
gleich ticken, zum Beispiel sehr technik-
verliebt sind und damit Erfolg haben.“
Recruiting gehört auf den Prüfstand
Doch Diversität setzt systematische
Auswahl und Förderung von Managern
voraus, die quer zum Gewohnten ste-
hen. Die Abteilung Personal aber hat in
falls nicht stellen, nach Austritt gilt für
ihn wie für alle Ex-Vorstandsmitglieder
zunächst ein Redeverbot zu aktuellen
Vorgängen - was viele Konzerne so hand-
haben.
Eine offene Kommunikationskultur
ist uns in den vergangenen Wochen bei
VW nicht begegnet. Doch ist das wirk-
lich Ausdruck einer „VW-Angstkultur“?
Etliche Berater und Hochschullehrer, die
den Autokonzern aus der Nähe kennen,
stimmen dieser Totalität des Urteils nicht
zu. Stark hierarchisch sei das Unterneh-
men, doch bei 600.000 Mitarbeitern und
Managern gebe es unterschiedliche Kul-
turen. Sie bringen andere Erklärungs-
muster für VW-Dieselgate ins Spiel.
Volkswagen ordnet sich in die Reihe
der Konzernskandale ein
So holt Stefan Kühl, Soziologieprofes-
sor an der Universität Bielefeld, die
Arbeit von Joseph Bensman und Israel
Gerver aus dem Jahr 1963 hervor. Die
Wissenschaftler beschreiben, wie in
einer US-amerikanischen Kampfflug-
zeugfabrik trotz eines strikten Verbots
Gewindebohrer eingesetzt werden, um
Ungenauigkeiten zu kaschieren und
Zeitvorgaben einzuhalten – und das mit
Wissen der Vorarbeiter und fabrikeige-
nen Inspekteure. Betrogen werden also
die Kontrolleure der Luftwaffe. Für Kühl
haben die Forscher gezeigt, „dass viele
informale Erwartungen nur unter Ver-
letzung der formalen Erwartungen er-
füllt werden können“. Niklas Luhmann,
längst ein Klassiker unter den System-
theoretikern, sprach von „brauchba-
rer Illegalität“. Kühl behauptet, dass
Regelverstöße selten einfach von oben
angeordnet werden, sondern sich ein-
schleichen – allerdings mit dem Wissen
vieler Mitarbeiter und Manager. Er ver-
gleicht den Skandal um den Bayer-Blut-
fettsenker Lipobay und den Untergang
des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia,
die Siemens-Schmiergeldaffäre und die
Zinsmanipulation der Deutschen Bank
in der Struktur mit dem Abgasbetrug
von VW. In diese Reihe passt auch der
der Auswahl gemeinhin wenig Einfluss.
Jedenfalls im oberen Management grö-
ßerer Unternehmen. „HR sitzt ab dem
Mittelmanagement aufwärts nicht mit
am Tisch“, erzählt Marcel Derakhchan,
geschäftsführender Gesellschafter des
Personalberaters Lab & Company in
München. Uwe Kanning, Wirtschafts-
psychologe an der Hochschule Osna-
brück, hat diese Erfahrung auch ge-
macht und findet es „verrückt, dass man
ganz oben aus dem Bauch heraus ent-
scheidet, aber bei Azubis Auswahlver-
fahren nutzt“. Noch immer werde un-
bewusst ein maskuliner Körperbau mit
Führungsstärke gleichgesetzt und gutes
Aussehen mit Intelligenz. „Man sucht
Macher“, sagt der Personaldiagnostiker
und vermisst strukturierte Verfahren,
mit denen analysiert werden kann, ob
Manager in den extrem komplexen Ar-
beitsbedingungen bestehen können.
Intelligenz und Leistungsmotivation,
Gewissenhaftigkeit und Kommunikati-
onsfähigkeit sollten auch in den oberen
Etagen systematisch getestet werden.
Konzerne wie VW müssen ihr Recrui-
ting auf den Prüfstand stellen.
Manager in der Beschleunigungsfalle
Sind die Manager erst auf ihren Posten,
treffen sie auf Effizienzdruck, Inno-
vationswettbewerb und ambitionierte
Unternehmensziele. Auch hier steht
Autobauer VW nicht einsam auf weiter
Flur. In 50 Prozent der Firmen wird der
Druck nicht produktiv gehandhabt, so
Heike Bruch, und führt in die Beschleu-
nigungsfalle. Dies ist eine „kollektive
Überhitzung, in der Führungskräfte oft
nicht mehr fragen, ob sie das Richtige
tun, ob etwas überhaupt geht und sie das
vertreten können“. Einen wesentlichen
Anteil an dem vermeintlichen Dilem-
ma haben Manager an der Spitze und
das Top-HR-Management. Der Vorstand
muss den Sinn der Ziele vermitteln,
Werten eine zentrale Rolle geben und
konsequent Prioritäten definieren. Er
darf nicht mit einer Flut an Kennzahlen
und überhöhtem Druck führen. „Wenn
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