DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 7/2016 - page 73

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Flächenversiegelung die Wahl Nummer eins. Und
auch in Bezug auf die Energieversorgung kann
man in der dichten Stadt viel mehr erreichen. Das
also ist meine Vision: die kompakte Stadt, aber
auch die gut vernetzte Stadtregion.
Jochen Freivogel:
Das ist zunächst ein städte-
bauliches Thema. In der Vergangenheit wurde der
Fehler gemacht, die Suburbanisierungmit Steuer-
geld – etwa der Pendlerpauschale – zu fördern. An
der Universität Stuttgart lautete einst das Credo:
Es gibt kein richtiges Bauen am falschen Stand-
ort. Gewiss, ich kann ein Super-Einfamilienhaus
bauen, das praktisch keine Energie verbraucht.
Davor stehen dann aber zwei dicke Autos, von de-
nen eines die Kinder in die 10 km entfernte Kita
bringt und das andere zum Biobauern fährt. Die
ganze staatliche Förderung für Einfamilienhäuser
könnte man meiner Ansicht nach zurückfahren
und das eingesparte Geld in eine qualitätsvolle
Stadtlandschaft investieren. Auf stadt- und regi-
onalplanerischer Ebene gibt es so viele Potenziale,
dass man sich nicht mehr über die letzten 3% bei
der EnEv unterhalten müsste.
Herr Dr. Hain, wie weit sind Sie mit Ihren
Aktivitäten in Sachen Nachverdichtung und
intensiverer Nutzung vorhandener Flächen
gekommen?
Dr. Thomas Hain:
Wir überlegen uns intensiv,
wie wir Ergänzungsbauten in Außenanlagen er-
richten und wie wir höher bauen können. Dabei
müssen wir aber berücksichtigen, dass unsere
Mieterschaft älter, bunter und ärmer ist als der
Durchschnitt in Hessen. Gut ein Drittel unserer
Haushalte hat einen Migrationshintergrund, ein
Viertel unserer Mieter ist älter als 70, ein Drittel
unserer Mieter hat Kinder. Das bedeutet, dass
wir nicht 08/15 bauen können. Die Vielfalt der
Kulturen und der Menschen, die bei uns wohnen,
erfordert es, Möglichkeiten für Begegnung und
Gespräche zu schaffen. Dafür braucht man Raum.
Nur dann funktionieren das Zusammenleben und
die Integration. Wir haben ein eigenes Sozialma-
nagement, das die Mieter so betreut, dass wir kei-
ne Probleme in unseren Quartieren bekommen.
Das ist der soziale Aspekt der Nachhaltigkeit.
Dr. Julika Weiß:
Wenn die Wohnungswirtschaft
sagt, dass die Anforderungen an die Energieeffizi-
enz nicht zu schaffen sind, dann sage ich: Was der
Bund verlangt, ist nach der UN-Klimakonferenz
von Paris im Grunde zu wenig. Die Frage ist, wie
„Die ganze staatliche Förderung für Einfamilienhäuser könnte man
zurückfahren und das eingesparte Geld in eine qualitätsvolle Stadt-
landschaft investieren. Auf stadt- und regionalplanerischer Ebene
gibt es so viele Potenziale, dass man nicht mehr über die letzten
3% bei der EnEV reden müsste.“
Jochen Freivogel
das leistbar ist. Dafür braucht es ein Umdenken
nicht nur bei der Wohnungswirtschaft, son-
dern auch bei der Politik. Bei diesem Umdenken
könnten gesellschaftliche Narrative helfen. Wie
werden wir denn eigentlich 2050 leben? Welche
zusätzliche Qualität bedeutet es, ein gedämm-
tes Haus zu haben? Wenn es um Dämmung geht,
reden wir in Deutschland immer nur über Wirt-
schaftlichkeit. Wer sich aber ein neues Bad ein-
baut oder ein neues Auto kauft, fragt sich nicht,
ob sich das rechnet, sondern überlegt sich, was
es ihm bringt. In diese Richtung muss auch die
Diskussion über die Energieeffizienz in Gebäu-
den gehen. Gerade für ältere Leute ist es z. B. ein
Argument, dass sie in einemgedämmten Haus im
Winter im Sessel am Fenster sitzen können und
sich nicht an die Heizung setzen müssen. Viel-
leicht amortisiert sich die Investition in den 15
Jahren, die sie noch imHaus wohnen, nicht; dafür
gewinnen sie Lebensqualität.
Vielen Dank, das war die perfekte Kurve von
der Anfangsfrage nach den finanziellen As-
pekten hin zur grundsätzlichen Frage, wie wir
zukünftig leben wollen.
Ichmöchte Sie einladen, dieses Gespräch fort-
zusetzen. Mein Vorschlag ist, jetzt in die Visi-
onsarbeit zu gehen und zu fragen: Wie könnte
es ganz anders aussehen?Wir sollten nicht die
Entwicklung linear fortschreiben, sondern fra-
gen, wo Systembrüche sein könnten. Dabei
möchte ichMatthias Horx und andere Kollegen
aus der Zukunfts- und Trendforschung zitie-
ren: „Wir sollten unser Denken revolutionärer
sein lassen.“
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