wirtschaft + weiterbildung
03_2018
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Wie funktioniert das integrative Denken denn genau?
Martin:
Es gibt vier Stufen. Zunächst geht es um das Ausloten
der gegensätzlichen Ideen, also das Herausarbeiten der we-
sentlichen Unterschiede. Dann folgt die Prüfung der Modelle –
gründlich, umfassend und mit so viel Unvoreingenommenheit
wie möglich. Man steigt also tief in die verschiedenen Modelle
ein, um zu verstehen, wie sie funktionieren und was für eine
integrative Lösung wichtig sein könnte.
Die dritte Stufe besteht darin, dass man sich
fragt, welche anderen und besseren Antwor-
ten es noch gibt. Diese Lösungen müssen
dann überprüft und verfeinert werden. Die
letzte Stufe ist der Test von Prototyp-Lö-
sungen. Die einfachste Methode ist es dabei,
die eigenen Ideen mit den Betroffenen (also
Mitarbeitern oder Kunden) zu teilen. Das Ganze ist natürlich
keineswegs einfach und klappt auch nicht immer. Aber die
Chance, auf diese Weise eine neue, kreative Lösung zu finden,
ist einfach größer.
Haben Sie ein Beispiel dafür? Wie wurde in der Praxis einmal
eine solche Synthese geschaffen, von der Sie sprechen?
Martin:
Das Toronto International Film Festival gibt es seit
1976. Das war eine kleine, offene Community, bei der jeder
Filme zeigen konnte und es keinen Wettbewerb gab. Aber es
war finanziell nicht tragbar. Der damalige Festivaldirektor Piers
Handling überlegte daher, was er tun könnte und schaute sich
genau an, wie das Festival von Cannes funktioniert. Das war
natürlich genau das Gegenteil. Es war exklusiv, man brauchte
eine Einladung. Es waren viele Stars da, es gab eine renom-
mierte Jury und viele Sponsoren. Das mochte er überhaupt
nicht. Er wollte ein Festival, an dem jeder teilnehmen kann.
Aber er brauchte nun mal Sponsoren.
Und was kam dann heraus?
Martin:
Heute gilt das Toronto Festival für viele als das wich-
tigste Filmfestival der Welt. Es ist noch immer offen für alle
und die Preisträger werden vom Publikum gewählt. Und weil
Toronto eine der ethisch diversesten Städte ist, hat das Ergebnis
globale Relevanz für den künftigen Erfolg von Filmen. Heute
ist es so, wenn der Gewinnerfilm der Goldenen Palme ins Kino
kommt, hat er 16 Millionen Zuschauer, wenn er in Toronto ge-
winnt, sind es 200 Millionen. Piers Handling hat also Elemente
der beiden Modelle vereint, sodass etwas Besseres herauskam.
Interview: Bärbel Schwertfeger
„Beim integrativen Denken geht es darum, das
Modell des anderen zu verstehen – unabhängig
davon, ob er recht hat oder nicht.“
Roger L. Martin