wirtschaft und weiterbildung 2/2017 - page 55

wirtschaft + weiterbildung
02_2017
55
Schröter:
Wir brauchen eine Re-Persona-
lisierung der Arbeitsprozesse. Das heißt,
Beschäftigte müssen die Möglichkeit
haben, Geschwindigkeiten von Abläu-
fen zu beeinflussen. Denn wir sind nie
zu jeder Stunde gleich wach und hand-
lungsfähig. Am Montagmorgen ist man
vielleicht etwas langsamer als am Diens-
tagnachmittag. Beschäftigte müssen ihre
persönlichen Anforderungen an auto-
nome Prozesse artikulieren können. Das
hat etwas mit Geschwindigkeit, Verständ-
lichkeit, Nachvollziehbarkeit, Rückhol-
barkeit und Fehlertoleranz zu tun.
Betrifft das alles nur die Produktion oder
auch ganz andere Bereiche?
Schröter:
Die industriellen Erfahrungen,
die wir gerade auf Seiten der Produktion
und der Fertigung im Hinblick auf Indus-
trie 4.0 sammeln, sind die technischen
Infrastrukturen, Muster und „Trampel-
pfade“, die bald in völlig andere Bereiche
hinüberkopiert werden können – zum
Beispiel ins Gesundheitswesen, in die Kli-
niken, die Kassen und die entsprechenden
Prozessketten im medizinischen Sektor.
Dies geschieht zwar durchaus im Sinne
einer Optimierung der Patientenversor-
gung. Aber wenn wir uns nicht mit den
oben beschriebenen Fragen auseinander-
setzen, kann das die Handlungsautono-
mie der Arbeitnehmer im Gesundheitssys-
tem – der Krankenschwestern, Ärzte, Hel-
fer oder Fahrer – deutlich einschränken.
Wir erleben also eine Weichenstellung in
Richtung Zukunft der Arbeit?
Schröter:
Ja, wir sind in einer Pilotsitua-
tion. Das, was im Augenblick in bestimm-
ten Industriebetrieben und Zulieferketten
ausprobiert wird, ist nichts, was nur für
diese Branche oder nur für dieses Ge-
werbe gilt. Diese Pilotierung verändert die
Arbeit und Arbeitsinhalte grundsätzlich,
stellt sie infrage und entwickelt sie weiter.
Das ist eine Kontinentalverschiebung in
der Arbeitswelt. Es geht nicht bloß um
ein paar kleine ergonomische Verände-
rungen in Unternehmen oder den Up-
grade von irgendeiner Software. Es geht
tatsächlich um die Neuerfindung von
Arbeit. Das hat damit zu tun, dass das
Wechselverhältnis von Materie und Vir-
tualität, von Gegenstand und autonomen
Systemen im Netz, die Arbeitsinhalte und
Arbeitsbegriffe gravierend verändert.
Leben, um zu arbeiten? Arbeiten, um zu
leben? Was heißt dann eigentlich
Arbeiten für uns?
Schröter:
Wir stehen vor einer Spaltung
der Arbeitsbegriffs. Es gibt eine Gruppe
von Beschäftigten, die neue Möglichkei-
ten bekommen, Themen zu setzen, aktiv
und kreativ zu sein oder Zeitsouverä-
nität auszuprobieren. Diese Menschen
finden eine große inhaltliche Erfüllung,
sind aber ständig überlastet. Die andere
Gruppe setzt sich vermutlich aus denje-
nigen zusammen, die aufgrund ihrer Aus-
bildung, Vorbildung oder sozialen Her-
kunft den Sprung in solche qualifizierten
Kernteams nicht schaffen. Wir werden
es mit neuen Zugangsbarrieren zu tun
haben, möglicherweise mit neuen Typen
sozialer Spaltung – und zwar entlang des
Themas Komplexität. Die drastische Zu-
nahme von Abstraktion durch autonome
Systeme birgt die Gefahr, dass Menschen
immer weniger verstehen, was hinter den
Touchscreens und Displays tatsächlich
passiert. In dem Augenblick, in dem ich
dies nicht mal mehr der Spur nach durch-
schaue, werde ich mich irgendwann nicht
mehr mit diesem Arbeitsprozess identi-
fizieren. Deswegen brauchen wir mehr
Komplexitätskompetenz.
Der Betrieb als „Ort der Arbeit“ wird
einen Bedeutungsverlust erleben ...
Schröter:
Wir werden eine Statusände-
rung des Betriebs erleben. Das hat damit
zu tun, dass rein technisch immer mehr
Arbeit aus dem Betrieb ausgelagert wer-
den kann – nicht nur durch mobiles Arbei-
ten, sondern vor allem über Crowdwor-
king-Plattformen und ihre Clickworker.
Diese Beschäftigten sind juristisch nicht
Teil des Unternehmens und des Sozialver-
sicherungssystems nach dem bisherigen
Modell. Wenn Betriebe einen relativen Be-
deutungsverlust erleben, müssen wir das
in irgendeiner Weise gesellschaftspolitisch
kompensieren. Die spannende Frage ist:
Wie gelingt es beim Crowdworking, so-
ziale Standards zu verankern, damit wir
nicht wieder 100 Jahre zurückfallen?
Welche Rolle spielen Personaler und
Personalverantwortliche aus Ihrer Sicht
beim Arbeiten 4.0?
Schröter:
Wir werden in den kommen-
den Jahren nicht nur Komplexitätskom-
petenz, sondern auch eine andere Form
von Kommunikationskompetenz brau-
chen. Menschen müssen mit autonomen
technischen Systemen interagieren und
verstehen, welche Art von Wissen ihnen
da geliefert wird. Die Anforderungen an
die Sozialkompetenz steigen, denn 4.0
bedeutet eine weitgehende Veränderung
der Arbeitsorganisation und der Arbeits-
prozesse. Veränderung ist immer eine In-
fragestellung und löst Verängstigung und
Befürchtungen aus. Das heißt, ich muss
den Menschen die Sicherheit vermit-
teln können, dass sie zum Ergebnis des
Umbaus gehören und nicht unterwegs
verloren gehen. Die Personaler wären
eigentlich ideale Akteure, diese weichen
Gestaltungsfaktoren zu ermöglichen und
zu garantieren. Aber dazu müssen sie
sich sehr proaktiv in die jetzige Debatte
hineinbegeben.
Interview: Stefanie Hornung
Welf Schröter.
Er begleitet als Initiator des „Forums Soziale Technikgestaltung“
Betriebs- und Personalräte und moderiert unter anderem den Blog „Zukunft der
Arbeit“. Außerdem ist er Partner im Projekt „
.
Foto: Personal Süd / Jack Tillmanns
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