PERSONALquarterly 1/2016 - page 56

PERSONALquarterly 01/16
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SERVICE
_DIE WAHRHEIT HINTER DER SCHLAGZEILE
B
eraterin Gertrud Höhler und Komiker Karl Dall sind
sich einig: Arbeiten jenseits der üblichen Pensions-
grenze muss erlaubt sein. In der ARD-Talkshow:
„Menschen bei Maischberger: Rente ist schrecklich“
am 15. September dieses Jahres vertraten sie damit die Mehr-
heitsmeinung, dass es eine Lüge sei, der Ruhestand an sich
mache glücklich. Nur eine 66-jährige Bäckereifachverkäuferin
und eine ver.di-Gewerkschafterin hielten dagegen: Erstere ar-
beitet noch, weil die Rente nicht reicht, und Letztere verweist
auf Schichtarbeiter, die ein Recht auf Faulheit hätten. Dennoch
bleibt haften, dass der Ruhestand nicht zufrieden macht. Ganz
anders klingt das in der Wirtschaftswoche. Online titelt das
Magazin am 28. September: „Rentner sind glücklicher“. Der Ar-
beitsdruck sei weg, der Stress gleich mit, was einen positiven
Einfluss auf Zufriedenheit und Gesundheit habe.
Den Aufschlag für das Medieninteresse am Übergang vom
Beruf in die Rente gab Aspen Gorry, Wirtschaftswissenschaft-
ler an der Utah State University in Logan. Er veröffentlichte
mit seinen Kollegen Devon Gorry und Sita Slavov im Juli dieses
Jahres ein Diskussionspapier zu der Frage, ob der Ruhestand
die Gesundheit und die Zufriedenheit bei den Menschen ver-
bessert. Dazu nutzte das Forscherteam die Daten der von 1992
bis 2012 erhobenen „Health and Retirement Study“ (HRS), in
der in mehreren Kohorten Teilnehmer zwischen 50 und 70
und über 70 Jahre angeben, wie es um ihr körperliches und
seelisches Wohlbefinden bestellt ist. Beim Thema Zufrieden-
heit konnten Aussagen wie „Mein Leben ist nahezu ideal“ oder
„Ich würde beinahe alles wieder so machen“ in einer Skala von
1 bis 7 bewertet werden. Hinzu kamen konkrete und damit
weniger subjektive Faktoren. Abgefragt wurden zum Beispiel
Probleme bei alltäglichen Verrichtungen wie Treppen steigen,
essen, baden, telefonieren und Geldgeschäfte abwickeln. Auch
messbare Fakten wie Arztbesuche oder Krankenhaustage flos-
sen in die Ergebnisse ein. Einzelne Variablen kommen auf ei-
nen Beobachtungsumfang von über 41.000 Daten. Nicht in die
Studie aufgenommen wurden allerdings Teilnehmer, die aus
gesundheitlichen Gründen früher als üblich aus dem Berufsle-
ben ausschieden. Denn gesundheitliche Einschränkungen und
erst recht chronische Erkrankungen belasten das Zufrieden-
heitskonto erheblich.
Während früher bei älteren Mitarbeitern Leistungsminderung und bei Rentnern
Krankheit und Schwäche mitgedacht wurden, entdecken Forscher nun Positives.
Fröhlich altern
Außer HRS analysierten die Forscher Ergebnisse von Vor-
gängerstudien, die zumeist keine positiven Werte für Gesund-
heit und Lebenszufriedenheit fanden – die aber auch keine
längeren Zeitläufe im Ruhestand begleiteten. Hier setzt Gorry
an: „Offensichtlich braucht der Umstieg etwas Zeit“, so der
Forscher. „Aber schon nach vier Jahren sind die Menschen
messbar gesünder und fühlen sich zufriedener.“ Die These, die
er nun wissenschaftlich untermauern und diskutieren möchte,
lautet: „Bei älteren Erwerbstätigen, die selbst entscheiden, dass
sie in den Ruhestand gehen wollen, ohne gesundheitlich dazu
gezwungen zu sein, steigt mit den Jahren das Wohlbefinden.“
Freiwillige Freiheit von Erwerbsarbeit macht zufrieden
Uwe Engfer beschäftigt sich mit dem Zeitbudget von Erwerbs-
tätigen und Rentnern. Nicht die individuellen Momente der
Zeitzufriedenheit sind sein Thema, sondern die objektiv mess-
bare Beteiligung von älteren Menschen am beruflichen und
gesellschaftlichen Leben. „Die Daten geben Antworten zum
individuellen Wohlgefühl nicht her“, betont der Forscher. „Es
geht in meinen Untersuchungen um das Zeitbudget.“ Dazu
wertete der Akademische Oberrat am Institut für Soziologie
der Technischen Universität Darmstadt schon mehrfach die
Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes aus – und
untersucht gerade die neuesten Daten, die die Statistiker 2015
für die Wissenschaft freigegeben haben. Seine These: „Die Frei-
heit von Erwerbsarbeit bringt Aktivitäten ins richtige Maß.
Und im Vergleich zu den Erwerbstätigen steigt dann nach dem
Eintritt in die Rente die Zufriedenheit rasant, wenn sich das
Zeitbudget in die richtige Richtung verschoben hat.“
Mindern bei einem erheblichen Teil der Erwerbstätigen Ge-
fühle von Zeitnot und Überlastung die Lebensqualität, genie-
ßen die höheren Altersgruppen im Ruhestand es, endlich Zeit
für alles zu haben. Gleichzeitig fand Uwe Engfer keine Belege
dafür, dass Pensionäre unter Langeweile leiden, weil sie die
Geschäftigkeit des Erwerbslebens vermissen. ImGegenteil: Sie
nehmen sich mehr Zeit für Alltagsdinge, schlafen länger, gehen
in Ruhe einkaufen, essen gemütlich, die Mediennutzung steigt.
Nur wenige übernehmen neu ein Ehrenamt. Auch Sport und
Hobby sinken im Anteil am Zeitbudget. „Rentnerstress gibt es
nicht“, meint der Wissenschaftler.
Ruth Lemmer
, Freie Wirtschaftsjournalistin, Düsseldorf
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