Immobilienwirtschaft 5/2019 - page 35

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in Paris an der Périphérique zur Miete gewohnt hat, kann die bo-
denständigen Qualitäten einer Mietwohnung hierzulande schät-
zen. Man muss in Köln, Hamburg oder Berlin keine eigenen vier
Wände haben, umgut zu wohnen. Zudem sind hier bisherMieter
besser geschützt als in vielen anderen europäischen Staaten. Der
Kündigungsschutz ist hoch, die Politik eher mieterfreundlich.
So weit so gut.
Das geringe Immobilienvermögen der Privathaushalte führt
regelmäßig zu einem schlechten Ranking der Deutschen in den
World-Wealth-Reports. Der Medianwert des geldwerten Ver-
mögens liegt in Deutschland bei nur 47.000 Dollar. Griechen
(55.000), Franzosen (120.000), Italiener (125.000) oder Schweizer
(229.000) haben deutlich mehr. Weil sie mehrheitlich nicht mie-
ten, sondern ihre Eigentumswohnung besitzen. Bei den direkten
Jahreseinkommen sieht das zwar wieder deutlich besser aus. Wer
aber in Paris zum Renteneintritt eine abbezahlte Wohnung sein
Eigen nennt, hat mehr privates Vermögen als einMieter in Berlin-
Mitte, der weiter seine Miete zahlt.
Zwei Drittel der Deutschen verfügen über kein oder nur ein
geringes eigenes Vermögen. Nach sieben Jahrzehnten erfolg-
reichen Wirtschaftens, ohne Krieg, geht es den Armen deutlich
besser, aber die Reichen wurden auch sehr deutlich reicher.
Gewinne werdenwieder angelegt und lassenVermögen stetig
wachsen. Im letzten zinslosen Jahrzehnt wurden durch Immobili-
en scheinbar mühelos undwie von ZauberhandVermögen aufge-
baut. Durch den erhöhten Zuzug in die Städte steigen gleichzeitig
die Mieten und belasten die Mehrheit der Mieter dort besonders
stark. Zwei Entwicklungen in unterschiedliche Richtungen.
Deshalb wird in Berlin die Frage nach der gerechten Vertei-
lung von Eigentum gerade besonders vehement gestellt. Ganz
konkret geht es um das Recht auf angemessenen Wohnraum.
Das zu erreichen, so befürchte ich, wird über kostspielige Ent-
eignungen nicht erfolgreich sein. Vielmehr geht es darum, zusätz-
lichen, passenden und erschwinglichen Wohnraum zu schaffen.
Neu zu erzeugen. Dazu ist es erforderlich, Grundstücke als Bau-
land auszuweisen, in den zentralen Lagen nachzuverdichten und
Baurecht zügig bereitzustellen. Dann können die landeseigenen
und privatenWohnungsbaugesellschaften ihre Arbeit tun. Wenn
genügendWohnungen zur Verfügung stehen, werden dieMieten
auch wieder sinken. Das ist nur im Detail viel schwieriger, kom-
plizierter, langwieriger und anstrengender, als mit einem Schlag
tausende Wohnungen zu enteignen.
In politischen Großdebatten ist es erforderlich, überspitzt zu
formulieren, holzschnittartig zu simplifizieren, um verständlich
zu sein. Um sich Gehör zu verschaffen. Dabei wird gerne mit
radikalen Gegensätzen operiert. Mit den Reichen da oben und
den Armen da unten. Die Wirklichkeit ist allerdings viel wider-
sprüchlicher und vielfältiger. Wäre nicht der Aufbau von Ver-
mögen über die selbstgenutzte Wohnung in urbaner Lage gerade
jetzt so einträglich, müsste keiner eine eigeneWohnung besitzen.
Wer braucht noch ein eigenes Auto oder Fahrrad, wenn er tei-
len kann und Mobilität benötigt? Welche Unternehmen müssen
Eigen
tümer ihrer Büroräume sein, wenn sie Dienstleistungen
erbringen? Eigentum wird überbewertet.
Denn Wohlstand besteht bei Weitem nicht nur aus privatem
Vermögen. Das ist die gute Nachricht für die Deutschen. Nach
Ansicht derWeltbankmussman auch das durch Steuern gebildete
Volkseigentum in die Bewertung der Verhältnisse eines Landes
einbeziehen. Denn das bietet allen Bürgern Komfort, Sicherheit
undMöglichkeiten zur eigenen Entfaltung. Die Bank hat in ihrer
globalen Vermögensaufstellung deshalb nicht nur privates Hab
und Gut, sondern auch die Bildungs- und Ausbildungschancen
berücksichtigt, die Qualität von Regierungen und öffentlichen
Institutionen, den Zustand der Straßen, Plätze, Schienen, Häuser,
Städte und Kommunikationsnetze, die Versorgung mit Energie
und weitere immaterielle Faktoren, die die Lebensqualität un-
mittelbar beeinflussen. Und siehe da: Schon steht jeder einzelne
Deutsche mit fast 350.000 Euro Vermögen ganz weit oben auf der
Wohlstandsskala, übertroffen nur von den Schweizern, Dänen,
Schweden und den US-Bürgern. Ein Land oder eine Stadt gehört
all denen, die dort leben. Die dort arbeiten, Steuern zahlen, eine
Ausbildung machen, Kinder erziehen oder Straßenbahn fahren.
Deutschland ist ein offenes, soziales und reiches Land.
Es gehört vor allem allen.
Immobilieneigentum lohnt sich finanziell. Vielleicht sogar mehr als Ar-
beit. Ist das gewollt? Gerecht? Müssen Unternehmen in Zeiten des Tei-
lens Eigentümer ihrer Büroräume sein? Eigentum wird überbewertet.
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ZUR PERSON
Eike Becker
leitet seit Dezember 1999 zusammen mit Helge Schmidt das Büro Eike Becker_Architekten in Berlin.
Internationale Projekte und Preise bestätigen seitdem den Rang unter den erfolgreichen Architekturbüros in Europa. Eike Becker_Architekten arbeiten
an den Schnittstellen von Architektur und Stadtplanung mit innovativen Materialien und sozialer Verantwortung.
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