DIE WOHNUNGSWIRTSCHAFT 4/2018 - page 49

Ich schlage vor, wieder einmal in der 2007 verabschiedeten „Leipzig-Charta
zur nachhaltigen europäischen Stadt“ nachzulesen, was unsere Leitidee des
Zusammenlebens ist. Vom Leitbild der kompakten Stadt ist in der Charta
die Rede, in der Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Einkaufen nicht getrennt
sind, und von einer Stadtentwicklung, die Segregation vermeidet und ein
Miteinander unterschiedlicher sozialer Gruppen ermöglicht. Auch Fragen der
Ökologie, der Architektur und der Baukultur spielen eine Rolle. Wenn wir also
das Ziel verfolgen, eine für alle Menschen lebenswerte Situation zu schaffen,
erwächst daraus eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die auch den
Grundgesetzartikel „Eigentum verpflichtet“ umfasst.
Von diesem Ziel ist die heutige Situation dramatisch weit entfernt. Wenn wir
uns über bezahlbaren Wohnraum unterhalten, heißt das im Umkehrschluss,
dass wir zu viel unbezahlbaren Wohnraum haben. Das wiederum heißt, dass
Menschen in einem der zentralen Lebensbereiche, nämlich dem Wohnen, in
ihrer Existenz gefährdet sind. Das geht quer durch alle Bevölkerungsschich-
ten. Das meint den Sozialhilfeempfänger genauso wie die kleine Familie,
die ein zweites Kind bekommt und trotzdem nicht in eine größere Woh-
nung umziehen kann, und die Seniorin, die einen Großteil ihrer Rente für die
Miete aufwendet. Um dies zu ändern, ist eine gemeinsame Anstrengung aller
Akteure erforderlich.
Anfangen sollten wir dabei beim Grund und Boden. Wenn Grundstücke in
zunehmendem Maße zum Spekulationsobjekt werden, wird es für kommu-
nale Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften unmöglich,
preiswert zu bauen, um bezahlbare Mietwohnungen anzubieten. Wir brau-
chen deshalb eine Bodensteuer, die sich am Wert des Grundstücks und nicht
am Wert des darauf stehenden Gebäudes
orientiert. Und wir müssen verhindern, dass
kapitalkräftige Kreise den Wert von Grund-
stücken so hochtreiben, dass diejenigen,
die günstig bauen möchten, nicht mitbieten
können. Kommunen, Länder und Bund sind
also gefordert, ihre Grundstücke nicht zum
Höchstpreis zu vergeben, wenn im Gegenzug
bezahlbare Wohnungen entstehen.
Um Segregation zu vermeiden, sollten wir
den sozialen Wohnungsbau nicht in separierten Wohnvierteln oder Satelli-
tenstädten konzentrieren, sondern eine gute Durchmischung unterschiedli-
cher sozialer Gruppen anstreben. Die Bundesländer, in deren Verantwortung
der soziale Wohnungsbau bekanntlich seit 2006 liegt, sehen sich einem
Kreditmarkt gegenüber, der die Förderbedingungen oftmals ad absurdum
führt. Warum soll ein Investor einen zinsverbilligten Kredit beanspruchen
und dafür eine Belegungsbindung zusichern, wenn er das Geld von der Bank
hinterhergeworfen bekommt? Wir werden also noch stärker darüber nach-
denkenmüssen, mit Zuschüssen zu arbeiten und dafür die Belegungsbindung
zu verlängern.
Auch wer Geld verdienen will, muss soziale Aspekte im Auge behalten. Und
wenn die Mieten steigen, weil die Attraktivität der Städte zunimmt, dann
muss ein Investor wissen: Die Attraktivität der Städte wächst nicht dank dem
Investor, sondern dank den Anstrengungen von vielen Akteuren. Deshalb ist
es die Pflicht von Investoren, der Gemeinschaft etwas zurückzugeben.
Wolfgang Tiefensee, Thüringer Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft, Erfurt
Menschen sind beim Wohnen in ihrer Existenz gefährdet
Wir müssen zwar miteinander reden, wir
müssen aber vor allem viel mehr miteinan-
der handeln. Ich kenne ja sowohl die Kom-
munal- und die Landespolitik als auch die
Wohnungswirtschaft und habe dabei immer
wieder erlebt, dass zwar jeder sein State-
ment abgibt, dass aber im Ergebnis nichts
passiert.
Erschreckend war auch, dass im Bundes-
tagswahlkampf und im niedersächsischen
Landtagswahlkampf der Wohnungsbau kaum eine Rolle gespielt hat,
obwohl der Druck so hoch ist. In Niedersachsen haben wir noch ganze
90.000 Sozialwohnungen, von denen in den nächsten Jahren 60.000 aus
der Bindung fallen werden. Gleichzeitig werden pro Jahr gerade mal 1.000
Sozialwohnungen neu gebaut.
Wie also können wir den Druck erhöhen? In Niedersachsen haben wir
gemeinsam mit dem Mieterbund, Haus & Grund, dem BFW und dem Ver-
band Wohneigentum dem Land vorgeschlagen, ein Bündnis für bezahlbares
Wohnen zu schließen. In diesem Bündnis wollen wir sämtliche Aspekte
des Wohnungsbaus – von der Bodenpolitik bis hin zur Bewirtschaftung –
betrachten und in der Folge gemeinsam Ziele formulieren, um auf diese
Weise einen Handlungsdruck zu erzeugen, der über das hinausgeht, was an
politischen Proklamationen immer wieder zu hören ist.
Was fehlt, ist der Dialog zwischen den Kommunen und dem Land darü-
ber, dass die Wohnungsbauförderung und die Kosten für Unterkunft (KdU)
nicht zusammenpassen. In den meisten Teilen Niedersachsens liegt die
KdU-Grenze unter 5 €/m
2
, während der niedrigste Satz bei der Wohn-
bauförderung 5,60 €/m
2
beträgt. Ebenfalls nicht gesprochen wird darüber,
dass manche Kommunen den Wohnungsunternehmen Aufgaben übertra-
gen, welche die Baukosten in die Höhe treiben. Die Stadt Hannover z.B.
verlangt gern Kindergartenplätze und stellt überhöhte Anforderungen an
die Stellplätze, sodass die Baukosten in den letzten Monaten um 500 €/m
2
nach oben geschossen sind.
Neben dem Neubau müssen wir auch die Bestände in den Blick nehmen.
Wenn wir nicht aufpassen, driften ganze Quartiere ab. Dabei dürfen wir
die ländlichen Regionen nicht außer Acht lassen. Der größte Teil der Bevöl-
kerung lebt ja in Kleinstädten oder im ländlichen Raum. Dort werden zu
wenige Mietwohnungen gebaut und die Eigentumsquote ist sehr hoch.
Viele ältere Menschen können aber nicht in ihren Häusern bleiben und
müssen in eine Mietwohnung in der Stadt ziehen, was den Prozess der
Heiner Pott, Verbandsdirektor, Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Niedersachsen und Bremen e.V.,
Hannover
Auch die Bestände müssen in den Blick genommen werden
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