personalmagazin 1/2016 - page 30

30
TITEL
_FLÜCHTLINGE BESCHÄFTIGEN
personalmagazin 01/16
von Dietmar Friederich in Dettingen bei
Stuttgart. In der Backstube arbeiten ne-
ben Meister Friederich noch drei Gesel-
len mit unterschiedlicher Stundenzahl.
Auch der Vater des 49-Jährigen hilft aus,
um das Sortiment an Brot, Kuchen und
Gebäck für zwei Geschäfte und ein Café
jeden Tag aus dem Ofen zu holen. Jedes
Jahr kommen Schülerpraktikanten. Die
Familie wirbt für den Handwerksberuf,
in dem kreative Rezepturen gefragt sind,
wenn auch sehr früh am Tag. Von der
Ankunft der Asylsuchenden lasen die
Friederichs nur in der Zeitung. „Dann hat
der Arbeitskreis Asyl bei uns angefragt,
ob wir einem Flüchtling ein Praktikum
geben können“, erzählt Dietmar Frie-
derich. „Wir haben das gemacht, denn
vom Gefühl her hat uns nur die Sprache
verunsichert“, erinnert er sich, „aber
mit etwas Englisch ging es.“ Inzwischen
nimmt die Zahl der deutschen Wörter
in der Backstube stark zu. Denn der
Praktikant aus Eritrea fragt und paukt.
Der 33-Jährige, der sich vor drei Jahren
ohne seine Frau und zwei Kinder nach
Deutschland durchgeschlagen hat, ist
beinahe vom Fach. Seine Eltern hatten
eine Getreidemühle.
Seit eineinhalb Jahren wohnt er in
Dettingen. Schon im Oktober 2014 sollte
sein unbefristetes Praktikum starten.
Gesundheitszeugnis und Hygienekurs
waren kein Problem, aber die Arbeits-
erlaubnis fehlte. Er hätte ehrenamtlich
schaffen können. Doch selbst ihm Back-
waren zu schenken, hätte als lohnwerter
Vorteil gewertet werden können. Um
sich nicht strafbar zu machen, stopp-
te die Bäckersfamilie ihr betriebliches
Hilfsprojekt. „Ich wünsche mir mehr
Unterstützung und schnellere Entschei-
dungen der Ämter“, sagt der Chef. Seit
Mai darf sein Schützling stundenweise
in die Backstube – befristet auf ein Jahr.
Berufsschulfähig muss der Eritreer er-
klärt werden und Bleiberecht erhalten,
dann kann Meister Friederich ihn ausbil-
den. „Wir halten durch, denn wir wollen
ihn“, sagt der Bäcker. „Wir haben uns
durch den direkten Kontakt alle weiter-
entwickelt, sind offener geworden – und
er passt einfach in unsere Backstube.“
Brezeln zum Beispiel schlingt der Neue
schon sehr elegant.
Sprachkenntnisse als Basis
Wie hilfreich vorhandene Strukturen
sein können, belegt das Dentallabor
Manfred Läkamp in Ostbevern bei Müns-
ter. 2005 gründete Manfred Läkamp die
Startbahn Ostbevern, einen Verein für
benachteiligte Jugendliche. Mit tatkräf-
tiger und finanzieller Hilfe von Kolle-
gen aus der Handwerkskammer wurde
ein Umspannwerk in einen Boxlernstall
umgebaut. Schüler trainieren Kondition,
Konzentration, Kraft und ihre Fäuste.
Wer seine Hausaufgaben nicht erledigt,
darf nicht in den Ring steigen. Die klaren
Regeln funktionieren. Als Abdulsamim
Ghiasi, der schon in Afghanistan boxte,
mitmachen wollte, gab es auch für ihn
einen Lern- und Sportplatz. Der 25-Jäh-
rige, den alle Samim nennen, kam vor
zwei Jahren mit seiner Mutter über den
Iran, die Türkei und von dort auf Last-
wagen nach Deutschland. Der Afghane
wurde nach viereinhalb Monaten Flucht
dann über Dortmund, Bad Berleburg
und Bielefeld nach Ostbevern geschickt.
Überall suchte er Beschäftigung. „Ich
kann nicht zu Hause sitzen und immer
nur nachdenken“, sagt Samim. Er fegte
für einen Euro die Stunde den Schulhof,
auch, damit er sein Deutsch übt, wurde
an der Integrationsschule abgelehnt,
weil sie keine Flüchtlinge aufnimmt,
und bewarb sich in einem EU-Bildungs-
projekt. Obwohl er in seiner Heimat zu
einem Agrarwissenschaftsstudium ver-
pflichtet wurde und von einem Bürojob
träumte, wie er es aus seiner Zeit im US-
Logistikcenter kannte, nahm er ein Prak-
tikum im Dentallabor an, das ihm Zahn-
techniker Läkamp anbot. „Ich habe sofort
gesehen, dass Samim fingerfertig und
intelligent ist“, sagt der und verlänger-
te für eine Hospitanz. Denn gegen Geld
arbeiten durfte der Asylsuchende nicht.
Im Frühsommer passten Deutsch-
kenntnisse und Anerkennungsverfah-
ren. Laborinhaber Läkamp bot ihm eine
Ausbildungsstelle an – und ging selbst
zum Ausländeramt. Jetzt bildet er statt
drei eben vier Azubis aus in seinem
28-Leute-Labor und freut sich über das
Tempo, das der 25-Jährige vorlegt, der
gute Noten in der Berufsschule schafft,
„Flüchtlinge sind Menschen, die was
wollen und was werden können.“
Manfred Läkamp, Dentallaborinhaber
„Ich kann nicht zu Hause sitzen und
immer nur nachdenken.“
Abdulsamim Ghiasi, Azubi bei Manfred Läkamp
1...,20,21,22,23,24,25,26,27,28,29 31,32,33,34,35,36,37,38,39,40,...92
Powered by FlippingBook