PERSONALquarterly 02/16
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_DIE WAHRHEIT HINTER DER SCHLAGZEILE
A
m 1. Januar wurde der Mindestlohn ein Jahr jung. In
den Medien der Zeitpunkt für eine Bilanz. Die Welt
titelt „Das bringt er wirklich“ (1.1.2016) und schildert
die Positionen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-
seite, die zwischen Jobkiller und Konjunkturprogramm pen-
delten, inzwischen aber abwägender wirken – auch wenn die
sinkende Zahl der Minijobs und die steigende Zahl sozialver-
sicherungspflichtiger Stellen zwar von Gewerkschaften, nicht
aber von Arbeitgeberverbänden als zwangsläufige Folge des
Mindestlohngesetzes gesehen werden. Spiegel Online greift mit
„Zoll fehlt Personal für Mindestlohnkontrollen“ (29.2.2016) die
Schwarzarbeit ebenso heraus wie mit „Popcorn statt Mindest-
lohn“ (15.9.2015) die Umgehungsstrategien einiger Unterneh-
mensmanager.
Alles in allem lesen sich die Artikel nicht sehr entschieden
– und das ist gut so. Denn mediale Fixpunkte gehen nicht
unbedingt mit wissenschaftlich seriöser Arbeit einher. Ein
Rückblick nach 100 Tagen mag für die Amtsübernahme eines
Wirtschaftsbosses spannend sein. Immerhin heißt es, dass er
in diesem Zeitraum die größten Veränderungen starten und
Gemeinheiten hinter sich lassen sollte. Aber 100 Tage Daten
für wissenschaftlich relevante Studien zu sammeln, das kann
nur bei kleinen Experimenten klappen. Und selbst ein Jahr ist
als Zeitspanne recht kurz. Professor Thomas K. Bauer, RWI-
Vizepräsident und Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirt-
schaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum, erinnert:
„Die Wirkung von Hartz IV konnte man auch erst nach zehn
Jahren beurteilen.“ Genau deshalb brachte es die Zwischen-
bilanz im September 2015 zur „Unstatistik des Monats“, die
Wirtschaftswissenschaftler Bauer gemeinsam mit dem Dort-
munder Statistiker Walter Krämer und dem Berliner Psycho-
logen Gerd Gigerenzer publiziert
en
kausalen Effekt zwischen Mindestlohn und Beschäftigungsent-
wicklung werden wir nie beweisen“, sagt Bauer. „Denn die hy-
pothetische Entwicklung ohne Mindestlohn können wir nicht
beobachten, nur konstruieren.“ Optimal wäre für ihn ein Expe-
riment, in dem zufällig ausgewählte Firmen mit Mindestlohn
ebenso zufällig ausgewählten Firmen ohne Mindestlohn in ih-
rer Entwicklung über einen längeren Zeitraum gegenüberge-
stellt werden. „Da ein solches Experiment nicht durchgeführt
Manchmal sind Wirtschaftsthemen politisch so hoch besetzt, dass wissenschaftliche
Erkenntnisse das Nachsehen haben. Forscher sind auf valide Basisdaten angewiesen.
Mindestlohn erforschen
werden kann, brauchen wir Forscher andere Variationen, mit
denen die hypothetische Entwicklung ohne Mindestlohn ange-
nähert werden kann“, betont Bauer. Dazu gehören regionale
oder branchenspezifische Unterschiede in der Bedeutung des
Mindestlohns. Und die Forscher-Community braucht Daten, die
für 2015 schlicht noch nicht vorliegen. Deshalb rät der RWI-
Vize zur Vorsicht bei verallgemeinernden Aussagen und ruft
Forscherkollegen wie Journalisten zu: „Habt Geduld.“
Europäischer Vergleich
Geduld, national und international Daten zu sammeln. Dazu
trägt die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens-
und Arbeitsbedingungen in Dublin seit 1975 bei. Karel Fric,
Research Officer Working Conditions and Industrial Relations
(WCIR) in der European Foundation, hat im Januar einenArtikel
zum Status des Mindestlohns in Europa veröffentlicht. 22 von
28 europäischen Staaten haben sich für ein Mindestlohnmo-
dell entschieden – mit Begründungen, die von der Konjunktur
bis zum Sozialversicherungssystem reichen. Fric beschreibt
die unterschiedlichen Zuständigkeiten: In neun Staaten ist es
die Regierung, in zehn Staaten sind es die Sozialpartner oder
ein gemischt besetztes Gremium, das die Mindestlohngrenze
fixiert. Mixmodelle gibt es auch. Während Luxemburg bei den
Mindestlöhnen an der Spitze steht, ist die Summe in Bulgarien
und Rumänien gering. Erfasst werden von Karel Fric auch die
Erhöhungen – in Griechenland und Belgien gab es keine mehr
seit 2012, in Estland, Litauen und Bulgarien lag die Steigerung
im vergangenen Jahr bei über zehn Prozent. Außerdem gibt der
tschechische Forscher die Diskussion 2015 wieder. Die wurde
nur in Staaten geführt, die bereits über Vereinbarungen oder
Gesetze zum Mindestlohn verfügen. Und meistens ging es um
das Level – mit dem üblichen Pro und Contra zu Wettbewerbs-
fähigkeit, Kaufkraft und Arbeitslosigkeit. Mit Schlussfolge-
rungen hält sich die European Foundation zurück. Fric: „Wir
erstellen eine Übersicht, aber für eine Einzelanalyse in den
Ländern müsste man weitaus mehr Daten zusammentragen.“
Datenlage in Deutschland
Daran arbeitet in Deutschland das IAB – Institut für Arbeits-
markt- und Berufsforschung in Nürnberg, eine Einrichtung
Ruth Lemmer
, Freie Wirtschaftsjournalistin, Düsseldorf