PERSONALquarterly 2/2018 - page 62

PERSONALquarterly 02/18
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SERVICE
_EVIDENZ ÜBER DEN TELLERRAND
W
ahrheiten sind oft unbequem. Zurzeit droht dem
ehemaligen Chef des griechischen Statistikamts
eine Gefängnisstrafe, weil er ein hohes griechi-
sches Haushaltsdefizit gemeldet hatte. Die Re-
gierung hätte gern niedrigere Zahlen gesehen. Sie hatte auch
zunächst eine kleinere, aber falsche Zahl an das Europäische
Amt für Statistik Eurostat gemeldet. Hier war die ursprüngliche
Evidenz massiv gefälscht, nun zeigt die revidierte Zahl das wah-
re Bild. Dergleichen Schwarz-Weiß-Szenarien sind aber in der
Datenkommunikation die Ausnahme, die Aktion „Unstatistik
des Monats“ spießt zuweilen welche auf. Viel häufiger sind Fäl-
le, in denen unklar ist, wie Sachverhalte sachgerecht in Zahlen
darzustellen sind. Dieses Problem ist ebenso virulent wie unter-
schätzt. Viele interpretieren Statistik als eine Art Übersetzungs-
programm, das die Welt um uns herum in Zahlen und Grafiken
abbildet. Und da könnten eigentlich nur Programmierfehler
vorkommen. Ansonsten sage die Statistik klar: Die Behauptung
ist wahr oder die Behauptung ist falsch So einfach ist das aber
nicht. Wo zum Beispiel gab es mehr Tote im Straßenverkehr, in
DeutschlandWest oder Ost? Kein Problem, könnte man da sagen:
Man zählt – und fertig. Nun fährt jemand auf der Heimfahrt von
der Arbeit gegen einen Baum und stirbt eine Woche später im
Krankenhaus. Ist er oder sie ein Verkehrstoter? In der DDR nein
– hier musste man binnen drei Tagen sterben, sonst war man
kein Verkehrstoter mehr. ImWesten Deutschlands ja – hier hatte
und hat man mit dem Sterben einen Monat Zeit.
Hat der Anteil der Analphabeten in der deutschen Bevöl-
kerung seit Kaiser Wilhelm zugenommen? Damals war ein
Analphabet, wer seinen Namen nicht schreiben konnte. Heute
ist, so die Unesco, der Analphabet „eine Person, die sich nicht
beteiligen kann an all den zielgerichteten Aktivitäten ihrer
Gruppe und ihrer Gemeinschaft, bei denen Lesen, Schreiben
und Rechnen erforderlich ist, und an der weiteren Nutzung
dieser Kulturtechniken für ihre weitere Entwicklung und die
der Gesellschaft“. Oder man nehme die Arbeitslosigkeit. Man-
che glauben, dass die amtliche Statistik hier systematisch un-
ter- , andere, dass sie übertreibt. Periodische Schlagzeilen wie
„Rückgang der Arbeitslosigkeit nur auf Papier“ oder „Anstieg
der Pseudoarbeitslosigkeit“ drücken diese Zweifel deutlich aus,
hier denkt so mancher: „Wusste ich es doch!“ Wie kaum eine
andere weckt die Statistik der Arbeitslosigkeit das alte Vorur-
teil, dass mit Statistik alles zu beweisen sei.
Die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg zählt die Personen
als arbeitslos, die ein Arbeitsamt als arbeitssuchend registriert,
und die außerdem
3
mehr als 18 Stunden in der Woche arbeiten wollen,
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nicht nur vorübergehend Arbeit suchen,
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älter als 15 und jünger als 65 Jahre sind sowie
3
dem Arbeitsmarkt sofort zur Verfügung stehen.
Wer nur eine Teilzeitarbeit von weniger als 18 Stunden pro
Woche oder eine Ferienstelle sucht, wer wegen Krankheit vo­
rübergehend nicht zur Verfügung steht oder die Suche per Ar-
beitsamt ganz einfach aufgegeben hat – die vermutlich größte
Gruppe –, der ist damit auch nicht arbeitslos. So betrachtet
sind die amtlichen Zahlen also viel zu klein. Dabei vergessen
aber viele, dass die amtliche Arbeitslosenstatistik auch Über-
gangsarbeitslose, Schwarzarbeiter und Kindergeld-Arbeitslo-
se mitzählt, die vor allem zum Kassieren der Unterstützung
als arbeitslos gemeldet sind. Da hier das Interesse an einer
Erwerbsarbeit nur vorgeschoben ist, sind diese Personen zwar
amtlich arbeitslos, aber nicht erwerbslos im eigentlichen Sinn.
So gesehen sind die amtlichen Zahlen also zu groß (vgl. Abb.).
Statistik ist also beileibe nicht immer eindeutig. Und: Sie
kann sich leider nicht dagegen wehren, dass man sie zuweilen
interessegeleitet stark verbiegt.
Fallstricke der Evidenz
Prof. Dr. Walter Krämer,
Wirtschafts- und Sozialstatistik, Technische Universität Dortmund, einer von drei Initiatoren der Aktion
„Unstatistik des Monats“
Abb.:
Arbeitslos und erwerbslos ist nicht dasselbe
Das Schaubild stellt im linken Kreis die amtlichen Arbeitslosen und im
rechten Kreis die Erwerbslosen dar. Die Kreise überschneiden sich, wobei
der linke Halbmond die amtlich Arbeitslosen abbildet, die aber mangels
Arbeitsabsicht nicht eigentlich erwerbslos sind, und der rechte Halbmond
alle Menschen enthält, die trotz bester Absichten nicht in den Karteien der
Arbeitsämter aufzufinden und der stillen Reserve zuzuordnen sind.
Arbeitslose
Erwerbslose
1...,52,53,54,55,56,57,58,59,60,61 63,64
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