PERSONALquarterly 01/18
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SERVICE
_EVIDENZ ÜBER DEN TELLERRAND
M
edizinischer Fortschritt hat zwei Quellen:
zum einen die Erfahrung der praktizierenden
Mediziner, zum anderen evidenzbasierte Be-
handlungsmethoden. Beide Seiten sind nicht
konkurrenzfrei. Aber analyse- und datenbasierte Studien
werden auch in Deutschland zunehmend von den Praktikern
als überlegen oder wenigstens positiv ergänzend anerkannt.
Randomisierte Studien, also solche, in denen Patienten eines
Krankheitsbilds nach dem Zufallsprinzip mit Wirkstoff oder
Placebo behandelt werden, und kontrollierte klinische Stu-
dien führen zu der Einsicht, dass die Qualität der Therapien
durch eben diese wissenschaftlichen Ergebnisse steigt. Sys
tematische Übersichtsarbeiten in der Krebs-, Herz-Kreislauf-
und HIV/Aids-Forschung differenzieren und verändern die
Einschätzung von Patientengruppen. Die unterschiedliche
Wirkung von Medikamenten etwa auf Kinder und Ältere, die
langfristig niedrige Wirksamkeit zugelassener Medikamente
etwa bei Depressionen, die Gleichwertigkeit von schonendem
Vorgehen bei Krebserkrankungen im Vergleich zu früher üb-
lichen radikalen Operationen sind Themen von kontrollierten
randomisierten Studien. Dennoch bedarf es des Arzt-Pati-
entengesprächs, um Risikofaktoren und Begleiterkrankungen
richtig einzuschätzen. Denn gerade hochwertige Evidenz
schließt individuelle Faktoren aus, weil diese nicht standardi-
siert werden können.
Transparenz in Diagnose und Behandlung
Evidenzbasierte Medizin (EbM) kann also zu einer fundierten
Basis medizinischen Agierens führen, wenn Arzt und Patient
den wissenschaftlich aktuellen Stand gemeinsam berücksich-
tigen. Um Transparenz und Partizipation in der Diagnose und
Behandlung zu erlangen, braucht es den mündigen Patienten.
Sowohl in der Europäischen Union als auch in Deutschland
gibt es eine steigende Zahl von Initiativen, die einerseits Pa-
tienten über evidenzbasierte Medizin informieren und die sie
andererseits darauf vorbereiten, wie sie sich beteiligen kön-
nen. Die European School of Oncology (ESMO) veranstaltet
regelmäßige Meisterklassen für Patientenvertreter, wo die
neuesten Trends und Studienergebnisse vermittelt werden.
Die European Association for the Study of Obesity (EASO)
bietet einen Dreitageskurs für Journalisten, damit diese Mul-
tiplikatoren verstehen, wie Fettleibigkeit medizinisch und in
der Gesellschaft behandelt werden kann. Patientenorganisa-
tionen wie die European AIDS Treatment Group (EATG) oder
die European Liver Patients’ Association (ELPA) organisieren
seit Jahren Kurse für Patienten, die ihre Kapazitäten und ihr
Wissen in Sachen evidenzbasierter Medizin auf- und ausbau-
en. Die Liste ist noch länger auf dem Gebiet der verschiedenen
Krebskrankheiten, wo die Entwicklung der Therapien rasch
voranschreitet. Patientenorganisationen fordern konsequen-
ten Einsatz von Evidenz in der Medizinwissenschaft.
Zuverlässige Informationen über Medizinforschung
Der Soziologe Steven Epstein beschrieb die Rolle der Bildung
und des Wissens im Patientenaktivismus mit besonderem Fo-
kus auf HIV/Aids in seiner Studie „Impure Science“ bereits
1998. Die Europäische Patientenakademie (EUPATI) wurde im
Jahr 2013 von der EU gerade zu dem Zweck ins Leben gerufen,
dass Patienten wissenschaftlich begründete, unparteiische
und zuverlässige Informationen über Medizinforschung und
klinische Studien vermittelt werden. EUPATI bietet einen Kurs
– noch ausschließlich in englischer Sprache, bald aber auch
auf Deutsch – für Patientenexperten, der imWeb ergänzt wird:
Rund 10.000 Seiten Informationen über medizinische Ent-
wicklung sind dort zu finden. Diese Inhalte werden aufgrund
einer rigorosen Prozedur und Qualitätssicherung in enger und
paritätischer Zusammenarbeit zwischen Patienten, Behörden,
Wissenschaftlern und der pharmazeutischen Industrie entwi-
ckelt und vermittelt.
Aber es geht noch weiter. Die neuesten Entwicklungen auf
dem Gebiet von Open Science, der öffentlich zugänglichen
wissenschaftlichen Ergebnisse, und Community-led Research
oder Citizen Science, der Forschungsunterfangen, die von Pa-
tientengruppen initiiert und umgesetzt werden, sind wichtige
Signale der wissenschaftlichen Sorgfalt und Präzision.
Natürlich werden wissenschaftlich gebildete Patienten nicht
in die Rolle des Arztes schlüpfen. Aber die Zusammenarbeit
mit Ärzten und Forschern, die sinnvolle Einbindung der Pa-
tienten in evidenzbasierte Medizin ist erst möglich, wenn die
Patienten auch die Sprache und die methodologischen He-
rausforderungen der Entwicklungsarbeit und insbesondere
der klinischen Studien verstehen. Ihr paritätisches Mitwirken
beeinflusst ihr individuell durch Krankheit beeinträchtigtes
Leben, aber vor allem ist es ein Mehrwert für die Medizin.
Mehrwert für Ärzte und Patienten
Tamás Bereczky,
Landeskoordinator Deutschland, European Patients‘ Academy for Therapeutic Innovation (EUPATI)