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SPEZIAL KANZLEIEN
_ARBEITEN 4.0
spezial Kanzleien im Arbeitsrecht 2017
bandsmitgliedschaft erhöht, sondern
dadurch, dass Außenseiter bestraft oder
in die Tarifbindung gezwungen werden.
Das ist kein zukunftsfähiges Konzept
für unsere Tarifautonomie, vielmehr
schwächen wir das Tarifsystem dadurch
zusätzlich. Denn sollten die Arbeitgeber
im Extremfall komplett aus der Tarif-
bindung aussteigen, gibt es auch keine
Tarifverträge mehr, die für allgemein-
verbindlich erklärt werden können. In-
sofern: In die Zukunft geblickt wurde
in diesen Bereichen gerade nicht. Auch
bei der AÜG-Reform können Unterneh-
men und Zeitarbeitsbranche lediglich
froh sein, dass Schlimmeres verhindert
wurde.
personalmagazin:
Blicken wir weg von den
konkreten Gesetzen der Regierung: Sind
unsere arbeitsrechtlichen Regeln allge-
mein gewappnet für die künftigen Anfor-
derungen durch neue Arbeitsformen?
Henssler:
Klares nein. Das Arbeitsrecht
ist keinesfalls auf Arbeiten 4.0 – also
auf die Digitalisierung, Flexibilisierung,
die neuen Arbeitsweisen und die Be-
dürfnisse der Mitarbeiter – ausgerich-
tet. Die ganzen modernen, neuartigen
Arbeitsformen werden bei uns vom Ge-
setz nicht sachgerecht erfasst. Das beste
Beispiel dafür ist das Arbeitszeitgesetz.
personalmagazin:
Wo wäre da anzusetzen?
Henssler:
Ausgangspunkt ist die euro-
päische Richtlinie, nur in diesem Rah-
men können wir agieren. Die Richtlinie
sieht grundsätzlich eine 48-Stunden-
Woche vor. Dabei ist interessant, dass
ein sogenanntes Opt-out zugelassen ist.
„Kein zukunftsfähiges Konzept“
INTERVIEW.
Die arbeitsrechtlichen Regeln genügen noch nicht den Anforderungen der
modernen Arbeitswelt. Was sich ändern muss, erklärt Professor Martin Henssler.
personalmagazin:
Werfen wir zunächst
einen Blick zurück: Wie sehr waren die
Projekte der aktuellen Regierung in die
Zukunft ge- und auf die künftigen Anfor-
derungen der Arbeitswelt ausgerichtet?
Martin Henssler:
Dass Arbeitsministerin
Andrea Nahles einiges angepackt hat,
ist eindeutig – auch wenn sich darü-
ber streiten lässt, ob stets die Richtung
gestimmt hat. Nehmen wir das Thema
„Mindestlohn“: Damit habe ich meinen
Frieden geschlossen. Ich fände zwar
mehr Ausnahmen sinnvoll, etwa im
karitativen Bereich. Letztlich ist die
Gesetzgebung jedoch eine politische
Reaktion auf die Schwäche der Gewerk-
schaften in bestimmten Bereichen. So-
lange die Mindestlohnkommission – wie
es derzeit der Fall ist – mit Augenmaß
agiert, kann man damit leben.
Negativer fällt mein Urteil bei Tarifau-
tonomiestärkungs- und Tarifeinheits-
gesetz oder der Reform des Arbeitneh-
merüberlassungsgesetzes, dem AÜG,
aus. Der Gesetzgeber setzt hier an der
falschen Stelle an. Angeblich ist die
Stärkung der Tarifautonomie sein Ziel.
Tatsächlich geht es aber nicht um die
autonome, selbstbestimmte Festlegung
von Arbeitsbedingungen, sondern da-
rum, dass der Staat sich vermehrt ein-
mischt und so versucht, einer Erosion in
der Tarifbindung Rechnung zu tragen.
personalmagazin:
Was wären Beispiele für
eine solche Einmischung?
Henssler:
Nehmen Sie das Arbeitnehmer
entsendegesetz, das ja zwischenzeitlich
zu einem Branchenmindestlohngesetz
mutiert ist. Der Staat erweitert immer
mehr Tarifverträge durch Rechtsver-
ordnung und erstreckt sie so auf nicht
verbandlich organisierte Unternehmen.
Oder schauen Sie auf das neue AÜG:
Tarifgebundene Unternehmen können
künftig bei entsprechender tariflicher
Öffnung ohne Begrenzung von der
Höchstüberlassungsdauer von 18 Mona-
ten abweichen, für nicht tarifgebundene
Unternehmen liegt die Grenze bei 24
Monaten. Es gibt keine sachliche Recht-
fertigung für diese Unterscheidung,
vielmehr ist dies ein zielgerichteter Ein-
griff in die negative Koalitionsfreiheit.
Der Gesetzgeber reagiert sehr einseitig
auf die Schwächung der Tarifautonomie:
Nicht, indem er die Attraktivität der Ver-
PROF. DR. MARTIN HENSSLER
ist
Geschäftsführender Direktor des Instituts
für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der
Universität zu Köln.