personalmagazin 10/2018 - page 10

sollte möglichst außergewöhnlich, singulär sein. Hier finden
Sie wieder das Modell Kunst und Künstler. Kein Wunder, dass
Rankings, Likes und andere Bewertungsmechanismen in dieser
Gesellschaft so zunehmen. Das ist ähnlich den Filmfestivals und
Architekturwettbewerben. Da ist es manchmal auch nicht ein-
fach, objektiv die Performance zu bewerten.
Ist das nicht brutal und gefährlich?
Es strapaziert jedenfalls gängige Gerechtigkeitsvorstellungen
nach demMotto „gleiche Arbeit, gleicher Lohn“. Denn wenn die
Performance vor dem Publikum so zentral wird, können eklatan-
te Ungleichheiten zwischen Erfolgreichen und Erfolglosen die
Folge sein. Und das ist keine Frage der Arbeitsmenge oder der
formalen Qualifikation.
Und alle machen mit?
Nein – vor allem kommen nicht alle mit. Anders als in der
Industrieökonomie gibt es in der postindustriellen Ökonomie
von vornherein eine scharfe Spaltung: Zwischen den Hochquali-
fizierten in der Wissensökonomie und den Niedrigqualifizierten
in den einfachen Dienstleistungen. Im ersten Segment findet der
Wettbewerb um Singularität statt, im letzteren hingegen geht es
um Standardarbeit – eine Arbeit, die unsichtbar bleibt.
Was bedeutet das für die Sozialstruktur unserer Gesell-
schaft?
Wir haben auf der einen Seite die hoch qualifizierte neue Mit-
telklasse. Die erleben es häufig als befreiend und wertvoll, sich
als Persönlichkeit in all ihren Facetten entfalten und darstellen
zu können. Auf der anderen Seite haben wir aber auch eine neue
Unterklasse, die an den Rand der Gesellschaft gerät.
Was können und sollen Menschen mit Verantwortung zum
Beispiel in HR angesichts dieses Befunds tun?
Die Prozesse der Singularisierung enthalten viele Chancen und
Möglichkeiten – das sollte man also nicht verteufeln. Zugleich
aber stellt sich die Frage, ob wir mittlerweile das Allgemeine,
das Routinisierte, Geregelte, auch das Gleiche und das allen
Gemeinsame nicht zu sehr abgewertet haben. Das betrifft die
Wertschätzung aller Berufe als gesellschaftlich notwendig ebenso
wie Maßstäbe von Bildung und Erziehung. Auch die Frage nach
einer allgemeinen politischen Öffentlichkeit stellt sich hier.
Wenn Singularisierung und Kulturalisierung also in unserer
Gesellschaft und unserer Wirtschaft manche Menschen und
ihre Arbeit abwerten: Sollen wir das einfach hinnehmen?
Nein, hier sehe ich ein zentrales Problem der postindustriellen
Gesellschaft: eine Krise der Anerkennung im Arbeitsbereich.
Die gesellschaftliche Fixierung auf höhere Bildungsabschlüsse
wertet direkt oder indirekt vermeintlich einfachere, aber gesell-
schaftlich notwendige Tätigkeiten ab. Vor allem die sogenannten
einfachen Dienstleistungen, ohne die diese Gesellschaft gar
nicht existieren könnte, leiden darunter. Das sind Tätigkeiten
mit geringem Singularitätsnimbus, aber ihre Funktion steht
außer Zweifel.
Mehr Achtung für standardisierte, einfache Arbeit? Und
Vorsicht vor zu viel Kult umKreativität, Einzigartigkeit und
Selbstentfaltung?
Unbedingt. Und wenn wir ehrlich sind, ist auch im kreativen
Prozess der formal Hochqualifizierten viel Routine, Wiederho-
lung und Kontrolle zu finden. Eine Welt, die nur aus Besonder-
heiten besteht, kann es gar nicht geben.
Andreas Reckwitz zeigt auf 480 Seiten,
wie sich in der Spätmoderne seit 1970
die Trends zur Singularisierung und
Kulturalisierung auf Menschen, Güter,
Räume, Zeitlichkeiten und auch Kollek-
tive auswirken.
Der „Singularisierung der Arbeitswelt“
widmet er ein ganzes Kapitel. Im Pro-
jekt, in der Talentökonomie, in ausge-
fallenen Jobtiteln und Jobprofilen, in
der komplexen Netzwerkorganisation,
im Freelancer der Gig Economy, im Lob
auf die Diversity, im ichbezogenen Instagram-Post: In die-
sen und vielen anderen Phänomenen unserer spätmodernen
Arbeitswelt findet er Anzeichen des Strukturwandels vom
Allgemeinen zum Besonderen. Eine lohnende Lektüre für
Personalfachleute, die besser verstehen wollen, was hinter
all dem Glamour der neuen Arbeitswelt steckt – und welche
Rolle sie in ihr spielen (wollen).
„Es gibt eine
Krise der
Anerkennung
im Arbeitsbereich:
Einfachere, aber
gesellschaftlich
notwendige
Tätigkeiten werden
abgewertet.“
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