personalmagazin 10/2018 - page 8

Personalmagazin: Herr Professor Reckwitz, Industriebosse
tragen T-Shirt und Turnschuhe, Wissensarbeiter liegen in
Hängematten und trinkenMate-Tee, Berufsprofile auf Xing
oder Linkedin machen mit Sinnsprüchen auf und Projekt-
arbeiter kleben bunte Post-its an die Backsteinwände ihrer
Firmenlofts. Was ist da los in unserer Arbeitswelt?
Andreas Reckwitz: Da vollzieht sich der Abschied von der In-
dustriegesellschaft. Von einer Gesellschaft und einer Arbeitswelt,
in der das Standardisierte, das Funktionale und das Rationale
im Vordergrund standen. Die industrielle Moderne war zugleich
eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft, in der eher soziale An-
passung und Unauffälligkeit gefragt waren.
In ihr war der Mensch Humanressource. Es galt, wie Arbeits-
psychologe Oswald Neuberger formuliert hat: „Der Mensch
ist nicht imMittelpunkt. Der Mensch ist Mittel. Punkt.“
Genau da setzt der Strukturwandel an. In der alten Industrie-
gesellschaft regierte das Allgemeine. In der Gesellschaft der
Gegenwart regiert das Besondere, das Einzigartige, das Singuläre.
Das ist das, was man erwartet und wünscht. Das gilt übrigens
nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für Güter,
Orte oder Kollektive.
Alles muss besonders sein?
Ja! Und das heißt: Alles soll möglichst einen Eigenwert haben,
ästhetisch wie ethisch, also nicht bloß ein Mittel zum Zweck
sein – ob das nun der Beruf ist, die Ernährung oder die eigene
Wohnung. Der Grund: Es ist das Singuläre, nicht das Standardi-
sierte, das Emotionen weckt. Ganz ähnlich wie das Kunstwerk
seit der Romantik.
Ist jeder Mensch, wie Joseph Beuys einmal gesagt hat, ein
Künstler? Und das auch noch bei der Arbeit?
Das ist natürlich zugespitzt. Aber ein Stück weit zeichnet das
die Gesellschaft der Singularitäten aus. Zusammenhänge, die wir
in der Moderne immer schon aus der Kunst kannten, verbreiten
sich nun in der ganzen Gesellschaft: Da muss Aufmerksamkeit
erzeugt und Komplexität erlebbar werden; da werden Regeln
gebrochen und Emotionen geweckt. Die Einzigartigkeit wird ge-
zielt fabriziert. Und die sogenannten „Creative Industries“, also
Designstudios, Medienhäuser, Marketingagenturen und viele
weitere, geben den Takt vor. Die klassische Industrie macht ja,
was viele vergessen, bei uns ohnehin nur noch 24 Prozent der
Beschäftigten und in den USA sogar nur noch 14 Prozent aus.
Wie kommt es zu dieser Entwicklung hin zur Singularität?
Da wirken drei Faktoren, die sich seit den 1970er-Jahren gegen-
seitig verstärken. Erstens eine soziokulturelle Authentizitäts-
revolution, getragen vom Lebensstil einer neuen Mittelklasse.
Diese neue, gut ausgebildete Mittelschicht will nicht nur Le-
bensstandard, sie will auch Lebensqualität, Selbstentfaltung,
authentische Erlebnisse. Zweitens die Transformation der indus-
triellen Ökonomie hin zu einer Wissens- und Kulturökonomie.
In ihr sind Güter mit kulturellem Singularitätswert eine zentrale
Wachstumsbranche. Das reicht von der Digitalökonomie bis zum
Tourismus. Drittens die technische Revolution der Digitalisie-
rung. Auch sie forciert bei näherer Betrachtung die Orientierung
am Einzigartigen. In der Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes
zählt nur das Besondere.
Wenn ich das zusammendenke, kommt mir der moderne
„Digitalnomade“ in den Sinn. Ein Mensch, der Selbstver-
wirklichung und Geschäftstätigkeit verbindet, indem er
herumreist und vom Laptop aus erfüllende Jobs erledigt …
... offensichtlich ein singulärer Mensch an singulären Orten
in singulären und erfüllenden Tätigkeiten, der viele singuläre
Momente erlebt und diese teilt. Jedenfalls idealerweise. Das Ge-
genteil vom klassischen Angestellten der Industriegesellschaft.
Diese Art der Singularisierung wird aber doch erst von der
sogenannten Generation Y so richtig laut für sich reklamiert?
Generationenbegriffen gegenüber bin ich skeptisch. Da mag
es feine Abstufungen zwischen Generationen geben, aber mir
geht es um längerfristige Prozesse, die mehrere Generationen
„In der Gesell­
schaft der Gegen­
wart regiert das
Besondere, das
Einzigartige, das
Singuläre. Alles
soll möglichst
einen Eigenwert
haben, also nicht
bloß ein Mittel
zum Zweck sein
– ob das nun der
Beruf ist oder die
Ernährung.“
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