Wirtschaft und Weiterbildung 1/2018 - page 15

wirtschaft + weiterbildung
01_2018
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Stumpp:
Erst, als wir die Rollen getauscht hatten und ich eine
Woche lang nichts sehen konnte, habe ich den anderen wirk-
lich verstanden. In kompletter Dunkelheit vergeht die Zeit
viel langsamer. Auch für mich hat sich die Zeit zwischen den
Mahlzeiten dann wie eine Ewigkeit angefühlt. Aber auch das
Gefühl, nichts hören zu können, zerrt an den Nerven: Die an-
deren haben nicht immer Lust, alles für dich aufzuschreiben.
Das treibt dich in die Isolierung. Man möchte ja nicht bei jeder
Kleinigkeit um Hilfe und Aufklärung bitten und findet sich
damit ab, bei Unterhaltungen und Witze-
leien außen vor zu sein. Das zerrt an den
Nerven und kann einen wahnsinnig ma-
chen. Ich war zwar mit zwei Freunden
unterwegs. Aber ich habe mich trotzdem
sehr einsam gefühlt. Diese Erfahrung
habe ich nach der Reise in meinen Alltag mitnehmen können.
Heute stelle ich leichter fest, warum Menschen oft gereizt re-
agieren: Sie fühlen sich zu wenig eingebunden – in Prozesse,
Entscheidungen oder Gespräche.
Personaler und Coachs wissen, was auf diese Einsamkeit
folgt: Nachlassender Ehrgeiz, innere Kündigung …
Stumpp:
Ja, ich denke, das ist eine Erfahrung, die wir gerne
mit den Personalern und Führungskräften teilen: Nichts ent-
mutigt mehr als das Gefühl, nicht in Entscheidungsprozesse
einbezogen zu sein. Dahinter muss ja nicht immer böse Ab-
sicht der anderen stecken: Am Anfang unseres Trips kamen
immer wieder zwei von uns auf den Gedanken, nicht alle Ent-
scheidungen mit dem Dritten zu teilen, ganz einfach weil uns
der Verständigungsprozess zu aufwendig und unangemessen
umständlich erschien. Da wurde die Entscheidung, rechts oder
links abzubiegen, dann nur von denen getroffen, die sehen
konnten. Und nicht jedes akustische Geräusch muss dem
Gehörlosen vermittelt werden. So dachten wir anfangs. Das
konnte gar nicht gut gehen.
Ihr habt auf Eurer dreiwöchigen Reise wortwörtlich führen
gelernt. Respekt!
Bouman:
Im Film kann man sehen, wie ich den nicht sehenden
David in einer wunderschönen Landschaft führe und versuche,
ihm meine Eindrücke zu schildern. Dazu braucht man viele
Worte und die Bereitschaft, sich zu öffnen. Es reicht halt nicht,
lapidar zu sagen: „Wir sind gerade auf dem Jakobsweg und
es ist toll hier“. Ich musste David jedes Detail beschreiben:
die Steine, die Wolken, den Stand der Sonne. Auf diese Weise
wurde mir wieder bewusst, wie schön und wie wichtig Klei-
nigkeiten und Momentaufnahmen sind. Plötzlich habe ich ge-
Vorbilder.
Die „drei japanischen Affen“ lieferten die Film­
idee. Jeweils ein Affe hält sich die Augen, Ohren oder den
Mund zu. In Japan sagt man, die Affen gäben den Rat,
Schlechtes einfach zu ignorieren. Die Hauptdarsteller im
Dokumentarfilm „Drei von Sinnen“ schafften genau das
allerdings nicht. Fast jedes auftretende Problem
belastete das Durchhaltevermögen und die Stimmung.
R
„Selbst ein kleiner Schritt kann richtig Angst machen.
Aber ohne ihn kommt man nicht vom Fleck.“
Bart Bouman
Foto: jinjo0222988/istockphoto
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