wirtschaft und weiterbildung 11-12 /2017 - page 62

fachliteratur
62
wirtschaft + weiterbildung
11/12_2017
Neben Sigmund Freud und Alfred Adler gilt Viktor
E. Frankl (1905 - 1997) als einer der drei großen Psy-
chotherapeuten, die in der ersten Hälfte des letzten
Jahrhunderts in Wien arbeiteten. Während Frankl an
Freud kritisierte, er befasse sich nur mit dem Streben
des Menschen nach Lust, bemängelte er an Adler,
dass dieser hauptsächlich nur die These vertrete, der
Mensch strebe nach Macht (um Gefühle der Minder-
wertigkeit auszugleichen).
Für Frankl kam es darauf an, dass jeder Mensch den
Sinn seines Lebens findet. Die tiefe Sinnlosigkeit der
modernen Konsumwelt und eine lähmende innere
Leere waren für ihn das Kennzeichen des modernen
Menschen. Mit gefundenem Sinn lösen sich laut
Frankel viele seelische Krankheiten in Luft auf.
Aus Anlass seines 20. Todestags brachte der Beltz
Verlag einen neuen, sehr lesenswerten (weil tief-
schürfenden) Frankl-Reader auf den Markt. Im ersten
Teil geht es um Texte aus allen biografischen Phasen
des jüdischen Gelehrten, der das Konzentrationsla-
ger Auschwitz überlebte. Wir begegnen Frankl als
engagiertem jungen Arzt („Seelenärztliche Selbstbe-
sinnung“, 1938), als Holocaust-Überlebendem („Psy-
chologie und Psychiatrie des Konzentrationslagers“,
1961) und als Kulturkritiker („Bemerkungen zur Pa-
thologie des Zeitgeistes“, 1993). Insgesamt gibt es
zwölf lehrreiche Texte aus Frankls wechselvollem
Leben zu verdauen.
Wer als Trainer und Coach noch tiefer in Frankls
Theoriegebäude eintauchen will, hat dazu im zwei-
ten Teil des Buchs die Gelegenheit. Hier wird der
wissenschaftliche „Grundriss der Existenzanalyse
und Logotherapie“ vorgestellt. Laut Frankl kann man
den Sinn seines Lebens nicht selbst rational „herstel-
len“. Der Sinn zeige sich unerwartet „im richtigen
Moment“ und werde quasi auf einer geistigen Ebene
„vorgefunden“. Gleichwohl können Therapeuten
den Prozess der Sinnfindung unterstützen – durch
eine „sokratische Gesprächsführung“ (Was hat dein
Leid für Gutes?), durch eine paradoxe Intention (sich
gefürchtete Situationen besonders stark ausmalen)
und durch Dereflexion (Aufmerksamkeit gezielt vom
Schmerz abziehen) sowie durch Einstellungsmodu-
lation (innere Einstellung zur Welt verändern, ohne
dass sich die Welt verändert). Das Buch hat dort
seine Stärken, wo es zeigt, welche „Wege zum Sinn“
Frankl empfahl. Es fehlen aber Hinweise darauf, dass
sich die Logotherapie in der Zeit nach Frankl in zwei
entgegengesetzte Richtungen aufgespalten hat. Und
es fehlt letztlich auch eine kritische Würdigung die-
ses (religiös getönten?) Therapieansatzes.
Viktor E. Frankl
Als erster Psychologe stellte Frankl
(1905–1997) die Erfahrung von
Sinn ins Zentrum einer therapeu-
tischen Praxis. Er war Professor für
Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und
hatte zahlreiche Professuren in den USA inne. Frankls
über 30 Bücher wurden in 50 Sprachen übersetzt,
seine Autobiografie („ ... trotzdem Ja zum Leben sagen“)
erschien in 15 Ländern.
AUTOR
Foto: Institute of Logotherapy
Vom Leiden am sinnlosen Leben
AUS ANLASS DES 20. TODESTAGS VIKTOR FRANKLS
Viktor E. Frankl
Wer ein Warum zu leben hat –
Lebenssinn und Resilienz
Beltz Verlag, Weinheim 2017,
388 Seiten, 19,95 Euro
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