wirtschaft und weiterbildung 4/2017 - page 35

wirtschaft + weiterbildung
04_2017
35
Auch um top-down eine große Verän-
derung wie eine Reorganisation oder
die Einführung eines neuen Geschäfts-
modells durchzuführen, ist das System
wenig geeignet: Denn es zeichnet sich ja
gerade dadurch aus, dass es ungerichtete
Bottom-up-Innovationen fördert. Wann
der richtige Moment gekommen ist, bei
einem Veränderungsprojekt vom Change-
Management im zweiten Betriebssystem
auf das klassische Change- und Projekt-
management zu wechseln, erklärt der
Leadership-Berater Michael Fuhrmann,
der das duale Betriebssystem schon in
die Unternehmenspraxis umgesetzt hat,
im Interview ab Seite 36.
Ebenfalls eine Herausforderung stellt die
Zusammenarbeit der beiden Systeme
dar – die agile Netzwerkorganisation mit
Freiwilligen, die einen Teil ihrer Arbeits-
zeit aufs Innovieren aufwenden, und die
Mitarbeiter in der hierarchischen Struk-
tur, die weiterhin ihren alltäglichen Auf-
gaben nachgehen. Und zwischen beiden
Systemen agieren Führungskräfte, die
den Spagat zwischen Tagesgeschäft und
Innovationen meistern und auch damit
zurechtkommen müssen, dass ihnen die
Arbeitskraft, die die Freiwilligen in Inno-
vationen stecken, im Tagesgeschäft fehlt.
Kein einfaches Konzept – aber laut Lea-
dership-Berater Fuhrmann ein lohnendes:
Gelingt es, beide Systeme unter einen Hut
zu bringen, sagt er, „laufen die Mitarbei-
ter los wie im Turbogang“.
Andrea Sattler
„Ein völlig neues Spiel“
Weltweit betreiben wir Change Management so, wie
Sie es in „Leading Change“ definiert haben. Warum
haben Sie den Ansatz in „Accelerate“ weiterentwickelt?
John Kotter:
In „Leading Change“ ging es um groß ange-
legte Change-Projekte. Die wurden damals schlecht gema-
nagt – und ich hoffe, dass auch heute noch meine Ideen
helfen, solche Mammutprojekte erfolgreicher zu gestalten.
In den letzten Jahren hat die Zahl strategischer Projekte
allerdings drastisch zugenommen. Change ist ein Dauerzu-
stand. Da trägt der Ansatz nicht mehr. Zum einen genügt
es nicht, die einschlägigen Instrumente alle zwei Jahre
aus dem Werkzeugkasten zu holen und nach Abschluss
des Projekts wieder zurückzulegen. Zum anderen stehen
unsere Organisationsstrukturen dem Wandel entgegen.
Die sind nicht dafür gemacht, schnelles und agiles Handeln
zu ermöglichen. Change ist wirklich ein völlig neues Spiel
geworden.
Was ist falsch an unseren Unternehmensstrukturen?
Kotter:
Herkömmliche Unternehmen setzen auf Hierar-
chien, operieren in Silos, arbeiten mit Leitlinien, definier-
ten Rollen und Prozessen sowie ausgefeilten Planungs-
systemen. Sie gewährleisten, was etablierte Unternehmen
sicherstellen müssen: effizient und stabil ein Standardge-
schäft durchzusteuern. Das ist eine große Herausforde-
rung, die gar nicht hoch genug zu bewerten ist. Aber sol-
che Organisationen tun sich schwer damit, strategische
Chancen und Risiken schnell zu erkennen und darauf zu
reagieren. Wenn Sie wissen wollen, wie man intelligente,
innovative Entscheidungen unbürokratisch trifft und
schnell umsetzt, müssen Sie sich erfolgreiche Start-ups
Interview.
Change-Guru John Kotter erklärt, warum er es für sinnvoll hält, über die klassische,
hierarchische Organisation ein „zweites Betriebssystem“ zu legen.
anschauen. Die haben nichts außer ihrer Agilität. Und die
verdanken sie ihren Netzwerkstrukturen.
Hält Ihr „duales Betriebssystem“, was es verspricht?
Kotter:
Wir haben meine Überlegungen in unserer Bera-
tungsgesellschaft Kotter International in mehreren Projek-
ten getestet. Außerdem stütze ich mich auf jede Menge For-
schung. Die Bilanz der getrennten Welten ist ernüchternd.
Es mag ein paar wenige geben, die damit gut fahren. Die
Mehrheit tut es nicht.
Und wie wird im „zweiten Betriebssystem“ gemanagt?
Kotter:
Jedenfalls nicht nach den Regeln eines Top-down-
Projektmanagements. Die Leute im „zweiten Betriebssys-
tem“ werden sich selber organisieren. Sie werden das im
Rahmen der Leitplanken tun, die das Topmanagement vor-
gegeben hat. Denn das gibt ihnen Sicherheit. Aber dann
starten sie durch.
Interview: Randolf Jessl
Prof. Dr. John Kotter
ist
Professor an der
Harvard Business
School und gilt als
Vordenker im Change
Management.
Foto: Kotter International
1...,25,26,27,28,29,30,31,32,33,34 36,37,38,39,40,41,42,43,44,45,...68
Powered by FlippingBook